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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 8, S. 181

Text

KNABE UND HERRIN.*
(Gegenreden in der Dämmerung.)
Von RICHARD SCHAUKAL (Brünn).

Der Knabe.

Lange sehnt’ ich die glückliche Stunde herbei,
Die mir vom harrenden Herzen die Fesseln löste,
Die meinen bebenden Worten gestattete, laut zu sein.

Die Frau.

Sprich mir von Deiner Kunst, die mich selig erstaunen macht,
Die meine trägen Gedanken ins Blaue trägt,
Wo die kommenden Winde sind und die flatternden Lerchen.
Wenn Du mit schlanken Fingern zärtlich die Laute rührst,
Wenn Dein erblassender Mund jene traurigen Weisen sagt,
Bin ich die Frau nicht mehr, die, gereift, vor dem Herbste bangt,
Bin ich das Mädchen von einst, das mit ahnendem scheuem Schritt
Still und erröthend durch summende Wiesen gieng
Und unterm rauschenden Walddach vor seinen Wünschen erschrak.

Der Knabe.
(Er hat das Kinn in die Hand gestützt und sieht traurig zu ihr auf, zu deren Füssen er sitzt.)

Nicht von der Kunst der Saiten und meines Gesanges
Wollte ich reden. Ihr macht mich immer so traurig.

Die Frau.
(Sie streicht ihm leise das blonde weiche Haar aus der Stirne.)

Mach ich Dich traurig? Warum? Bemüh’ ich mich doch um Dich,
Bin ich die erste doch stets, der all Deine Lieder ertönen,
Der sich Dein sehnendes Herz innig und trauend erschliesst.

Der Knabe.

Nimmer noch habt Ihr mein Herz, das zitternde, wärmend gehalten,
Wie Ihr den Vogel einst hieltet, den nestentfall’nen, verwaisten;
Eure kühle Hand auf meinem Scheitel betrübt mich.

Die Frau.
(Sie hat die Arme über den Knien herabhängend und sitzt vorgebeugt, wie besorgt.)

Fehlt Dir die Sorge, die mütterliche, die fragende?

Der Knabe.

Ob mir die Mutter auch fehlt in Stunden herben Alleinseins,
Nicht von der Mutter zu reden, erhob ich die flehende Stimme.
O, Ihr verschmäht meine Liebe, verweiset mich lächelnd und ruhig!
Nie in Eure Nächte noch drang wie ein Rufen mein Dasein.

* Aus dem demnächst erscheinenden neuen Bande Verse: »Tristia«.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 8, S. 181, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-08_n0181.html)