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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 8, S. 189

Text

MEYER-FÖRSTER: LEBEN.

hatte gleichfalls etwas Herausforderndes:
herbe, fast drohend verzogene Lippen
über blendend glänzenden Zähnen. —
Beide hatten den Ernst und die Wichtig-
keit ihres Berufes im Burgunder des
Desserts ertränkt und ähnelten jetzt den
leichten Mädchen, die sich absolut Muth
machen wollen. — Aber das Eckige des
Ungewohnten lag in ihrer Lust und des
Kritikers Augen streiften mehr als einmal
über die Formen und Lippen, die ihn
bedrängten, weg, zu der sehr jungen Frau
hin, die unschlüssig in das ihr neue
Treiben starrte. Aus Zufall war sie in
diese gemischte Bohème gerathen, wie
man mitunter auch einmal abseits in einen
Wald geräth. Flimmern und Flirren und
Schwüle umfiengen sie. Sie war schön,
ohne dass sie es wusste, denn ihr Mann,
der heute abwesend war und sie einer
abenteuernden Freundin überlassen hatte,
sagte ihr das nicht gern. Er war ein be-
dachter Mann. Aber die Männeraugen
sagten es ihr, die hier, an diesem Orte,
in dieser Unbewachtheit, auf sie ein-
drangen. Sie fühlte etwas Fremdes,
Erregendes in sich aufsteigen. Einer, der
sehr schmale, feine Füsse hatte, sass so,
dass sein Lackstiefel beinahe ihren weissen
Schuh berührte; und aus dieser Nähe
eines fremden Männerfusses zu dem
ihren gieng pochende Unruhe auf sie
über. — Jemand wagte sich am Clavier
an eine Symphonie. In der schwülen,
stummen Gesellschaft wirkten die reinen
Töne fast schmerzlich aufregend. Alle die
blassen, ein wenig überreizten Gesichter
horchten gespannt, horchten mehr nach
innen, auf ihr eigenes Tongesumme, als
zum Instrument hinüber. — Jetzt sah die
junge Frau genauer nach dem Musicierenden
hin: er war es, der sich vorhin dort in
der Nische von zwei ältlichen Mädchen
hatte küssen lassen. Ihr Athem stockte,
sie fühlte sich empört. Sie empfand, wie
sein Blick sie verschlang und sein ver-
wirrtes Haar, sein gebauschtes Brusthemd,
die unordentliche Cravatte und der saloppe
Rock erfüllten sie, die Frau des accuraten
Militärs, mit Ärger. Er merkte es und
seine Augen streiften fast lächelnd an ihr
herunter. — Sie fühlte ein süsses, bebendes
Unbehagen, als glitte eines Liebsten Hand
mit einem Zittergras über ihren Leib —

dann verzog sie die Lippen hochmuthsvoll.
— Sie wollte stolz aussehen, herb, aber
in ihrem bleichen Kindergesicht entstand
nur eine zarte Grimasse und ihre in den
Schoss gelegten Hände umschlangen sich
krampfhaft, als wollten sie einander um
Schutz anflehen.

Dieses Knospenhafte entflammte ihn,
den am Clavier. Er wurde mit einem
Schlage ein anderer. Seine lässige Haltung
verschwand, er warf sich in ein feuriges
Allegro, seine langen, feinen Finger jubelten
über die Tasten und in sein Gesicht stieg
eine warme Färbung. Er dachte an den
Heimweg, der ihn mit ihr in eine Richtung
führte, in den Vorort hinaus, während
alle anderen genöthigt waren, den Weg
zur Dampfbahnhaltestelle einzuschlagen.
Er konnte nun kaum die Zeit mehr er-
warten. Kurz nach Tisch, als sie sich
erhob, trat er an ihre Seite und bot ihr
den Arm, um sie in das Nebenzimmer zu
führen. Sie gieng schüchtern, von ihrem
angstvollen Schweigen fast erpresst. Er
aber sprach desto beredter, mit leichtem,
fast zärtlichem Tone ihre Befangenheit
übertönend. — Bald darauf brach man auf.

»Sie waren zum erstenmale bei Frau
Grannier?« fragte er, als sie, getrennt von
den übrigen, die dunkle Chausee entlang
schritten.

»Ja, zum erstenmale. Fräulein Hugo
führte mich dort ein. Ich hatte einen
trübseligen Abend vor mir. Mein Mann
ist verreist und ich bin noch ganz fremd

in Berlin — —«

»Wo ist Ihr Gatte, wenn ich fragen
darf?«

»Er ist nach Baden-Baden gegangen,
zum grossen Jagdrennen; dort lässt er
unsre Stute laufen um den Jubiläums-
preis.«

Er neigte sich vor und sah sie lächelnd
an, die kleine Reitersfrau. Und nun wusste
er, was ihn so seltsam zu ihr hingezogen
hatte: es war diese fremde, kühle, junker-
hafte Atmosphäre, die sie und ihre Officiers-
frau - Blondheit umgab. Für ihn, den
Tintenkuli, der es zeitlebens nur mit
entgegenkommenden Bühnenweibern und
schriftstellernden Halbweibern zu thun ge-
habt hatte, etwas ganz Neues — das war
ja so, als wenn man aus einem dumpfen
Café, in dem man die Nacht hinter

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 8, S. 189, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-08_n0189.html)