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ihre persönliche Mittelmässigkeit sein
würde.
Die Kluft wird tiefer. Zwei Kasten
scheiden sich in der Welt: das Volk und
die Intellectuellen; und es scheint leider
wahrscheinlich, dass wir den von Mr. Wells
erforschten Zeiten entgegenschreiten, und
die überlegene Kaste der Menschheit die
Schafherde und das Schlachtvieh eines
in Finsternis schreitenden Volkes wird.
Der Roman, den ich soeben erwähnte,
ist eine der merkwürdigsten Kundgebungen
der englischen Literatur seit Jonathan
Swift. Mr. H. G. Wells besitzt voll-
kommen die ernste Erfindungskraft und
die grausame Ironie des Schöpfers Gulli-
vers; seinem Blick jedoch fehlt Klarheit
und Weite; er ist dort gerne kurz, wo
die reichlichsten Details willkommen
wären, und dort langathmig, wo es sich
nur um eine Episode von untergeordneter
Wichtigkeit handelt; man kann sagen,
sein Buch ist verfehlt; und dennoch ist
es, so wie es ist, ein Wunder an Grauen,
ein Bronnen des Schreckens, ein Kerker
der Angst, etwas Wunderbares und
Schreckliches. Nie kannte ich ein Buch,
das mit solchem Fieber, solcher Furcht
und so tiefem Unbehagen, so reger Neu-
gier gelesen wurde. Henry Davray ver-
öffentlichte eine Übersetzung davon im
»Mercure de France«, die soeben in Buch-
form erschien.*
Es erstehen auch alle Arten Bücher,
die trotz allem die Stärke unseres geistigen
Lebens künden: vor allem das Buch,
in dem Paul Adam die »Kraft« (La
Force)** verherrlicht; das ist gut, denn
wir brauchen sie, die Kraft, mehr als
das Mitleid; die politische Sentimentalität,
die ein süssliches Gift ist, macht unsere
Gemüther zu eitlen Träumen von Brüder-
lichkeit und sofortigem Glück geneigt;
der heuchlerische Altruismus gewinnt die
skeptischen Köpfe: es ist gut, den Menschen
zu zeigen, dass sie in der Hand des Ver-
hängnisses sind — und dass stets über ihren
Köpfen ein schwerer eiserner Arm schwebt,
der manchmal niedersaust und die Schädel
zerschmettert. Herr Rosny gibt in seinen
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»Ames perdues«*** (Verlorene Seelen) und
namentlich im Vorwort zu diesem Roman
seiner Besorgnis über die Moral Ausdruck;
er bedauert, dass sie nicht gewissenhafter
und wissenschaftlicher beobachtet werde;
er behauptet, »dass wir Moral treiben,
wie die Kupferschmiede bei den Negern
Bronze machen; aufs Gerathewohl nach
Recepten, die unzusammenhängend an-
einandergefügt sind«. Das ist sehr richtig,
aber es war zu allen Zeiten richtig. Die
Moral ist nie etwas anderes, als die Ge-
sammtheit der zum socialen Leben noth-
wendigen Bedingungen gewesen. Diese
Bedingungen sind weder wissentlich ge-
macht, noch willkürlich; sie sind durch
die Nothwendigkeit geschaffen. Sobald
man über Moral klügelt, wird man noth-
wendigerweise unmoralisch, denn fast
keine einzige moralische Handlung ent-
spricht der abstracten Vernunft; das mo-
ralische Gebiet ist das Gebiet der Rela-
tivität, der Beziehungen der Dinge zu
einander. Ein einsam lebender Mensch
könnte nur gedanklich genommen mo-
ralisch oder unmoralisch sein; die Moral
beginnt da, wo es zwei Willen gibt und
wird dann durch die Natur des stärkeren
Willens bestimmt; und da sich dies so
fortsetzt, ist die Moral in den civilisierten
Gesellschaften schliesslich der Ausdruck der
Lebenstendenzen der Majorität. In anderen
Worten: Die Moral ist eine Thatsache.
Herr Rosny glaubt, wie viele seiner von
der Wissenschaft berührten Zeitgenossen,
dass die Moral eines Tages nach ebenso
sicheren Principien bekannt gemacht wer-
den wird, wie es die der Chemie oder
Optik sind; obgleich er Positivist ist, er-
kennt er das teleologische Absolute an
und behauptet, dass der Mensch einem
Ziele entgegenschreiten muss, welches die
sociale Tugend ist. Diese Ideen unter-
scheiden sich so wenig von den religiösen,
dass sie, von einiger Entfernung gesehen,
mit ihnen verschmelzen. Das Reich
Gottes oder das Reich der Vernunft vor-
bereiten, ist das ganz gleiche fromme
Werk mit dem einzigen Unterschied, dass
der Begriff der Vernunft weit abstracter
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