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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 260

Text

HUGO WOLF.
Von MAX VANCSA (Wien).

Deutsch-Österreich, welchem die Musik
Haydn, Mozart und Schubert verdankt, ist
auch in der zweiten Hälfte unseres Jahr-
hunderts, in jener Periode, welche man
als die Wagnerische bezeichnen wird,
durch zwei hervorragende Erscheinungen
rühmlich vertreten: durch Anton Bruckner
und Hugo Wolf. Jener ein geborener
Oberösterreicher, dieser aus Steiermark
stammend.

Am 13. März 1860 kam Hugo Wolf
in Windischgrätz zur Welt, als Sohn eines
Lederhändlers, der selbst musikalisch ge-
bildet war und dem Knaben in frühester
Kindheit die ersten Unterweisungen im
Clavier- und Geigenspiel gab. Als er
mit eilf Jahren das Gymnasium des Stiftes
St. Paul in Kärnten bezog, warf er
sich auch auf das Orgelspiel. Später
kam er an das Gymnasium nach Mar-
burg. Die unbezwingliche Begierde zur
Musik liess ihn jedoch plötzlich seine
Studien abbrechen und führte ihn an das
Wiener Conservatorium. Aber für selbst-
herrliche Naturen, die ihre eigenen Wege
wandeln wollen, taugt der Schulzwang
nicht. Nach einem Jahre meldete er in
einem saftigen Schreibebrief der Direction
seinen Austritt an und gab sich von da
ab ganz dem eigenen Schaffen hin. »Ich
componierte viel dummes Zeug«, schreibt
er gelegentlich an einen Freund. Als das
erste, was vor seiner eigenen Kritik Stand
hielt, bezeichnete er selbst das Lied
»Morgenthau«, welches aus dem Jahre
1877 stammt.

Mit den Achtzigerjahren begann bei
dem jungen Künstler eine Zeit der rast-
losen Arbeit an seinem musikalischen
Können, seiner künstlerischen Vertiefung,
zuerst noch unsicher tastend. Er versuchte
sich an einer Musik zu Kleists Schauspiel
»Penthesilea«, dessen herbe Grösse ihn
besonders anzog und aus dem er in
Freundeskreisen oft zu recitieren pflegte;
an einem Streichquartett, das er später

in eine »Italienische Serenade« umwandelte;
an Chören, wie die »Christnacht«, »Dem
Vaterland« u. a. Auch bei seiner Lyrik
gieng es natürlich nicht ohne Kinder-
krankheiten, wie beispielsweise die bei
jungen Liedercomponisten üblichen Ver-
tonungen von Heine, ab. Aber bald war
seine volle Eigenart zum Siege gelangt
und diese sieben, acht Jahre, welche
äusserlich so still und ereignislos an ihm
vorüberglitten — er schrieb nur eine kurze
Zeitlang Musikkritiken, welche sich durch
ihre rückhaltlose Offenheit auszeichnen —
diese Jahre umschlossen eine Entwickelung
und Reife, reich, ja überreich an köstlichen
Früchten, denn die meisten der später
veröffentlichten Lieder fallen in diese Zeit.
Im Vergleiche mit unserer modernen
Künstlergeneration, welche mit ihren un-
reifsten Jugenderzeugnissen nicht nur
sofort die Welt behelligt, sondern in
Empörung geräth, wenn dieselben nicht
als epochemachende Meisterwerke all-
gemein anerkannt werden, ist dieses stille
Sich-Ausreifenlassen ein einzig dastehendes
Beispiel von künstlerischer Selbstzucht.
Erst im Jahre 1888 hielt Hugo Wolf
die Zeit für gekommen, an die Öffent-
lichkeit zu treten. Nun erschienen in un-
gewöhnlich rascher Aufeinanderfolge:
20 Lieder von Eichendorff (1888),
53 Lieder von Mörike (1889), 51 von
Goethe (1889), 6 von Keller (1890),
sowie in den Jahren 1889—1896 77 Lieder,
welche das spanische und 2 Hefte des
italienischen Liederbuches ausmachen.
Rechnet man dazu eine Reihe von Heften
meist älterer Vertonungen nach ver-
schiedenen Dichtern, wie Heine, Scheffel,
Just. Kerner, Reinecke, Lord Byron
und Michel Angelo, so erhält man die
stattliche Anzahl von etwa 250 Ge-
sängen.

Die meisten derselben entstanden in
dem Landhause einer befreundeten Fa-
milie zu Perchtoldsdorf. Wenn er mit

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 260, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-11_n0260.html)