Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 270

Alfred Momberts »Schöpfung« »Der bunte Vogel von 1899«. Von O. J. Bierbaum (Schäfer, WilhelmConrad, M. G.)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 270

Text

BÜCHER.

schrieben, würde eines der grössten Lyrik-
bücher aller Zeiten bedeuten. So, wie sie jetzt
ist, erfreut sie im Ganzen, um in Einzelheiten
zu verstimmen.

Es liesse sich sagen, auch die unklaren
Einzelheiten seien künstlerische Mittel. Sie
hülfen an ihrem Theil, die Stimmung dieser
Gottträume darzustellen. Das stünde mit der
ganzen Art des Buches in Widerspruch. Die
hat durchaus nichts Traumvolles, wie etwa
bei Hofmannsthal. Alles gibt sich als wirkliches
Erlebnis, in Tageshelle betrachtet.

Wir müssen auch hier den Grund in der
Unreife suchen, die immer die Mutter der
Unklarheiten ist, trotzdem eine Neigung geht,
gerade bei unausgetragenen Wesen von Über-
reife zu sprechen. Aber wie Goethe nicht zu
lange an dem zweiten Theile seines Faust ge-
tüftelt hat, sondern zu wenig Zeit hatte, um
ihn so reif und klar werden zu lassen wie den
ersten Theil, so wäre es auch für diese
»Schöpfung« besser gewesen, wenn ihr
Schöpfer sich länger damit getragen hätte.

Ob er sie ganz austragen konnte? Man
spürt aus dem Buche einen Hauch, der reifer
als reif schmeckt. Und selbst in den todtesten
Stellen ist der Rhythmus so sorgfaltig gear-
beitet, dass man, von ihm getragen, liest und
spricht und gar nicht merkt, wie unverstan-
dene Worte man sagt —? Dann wäre es nicht
Unreife, sondern Unkraft? Dann wäre
Mombert einer von den Dichtern, bei denen
weder die schöpferische Kraft über Bruchtheile
hinaus mächtig ist, noch künstlerische Arbeit
die Bindeglieder einschmieden kann?

All diese Erwägungen scheinen herb.
Aber nur sie erklären vielleicht den Misston,
der aus der »Schöpfung« klingt.

Berlin. Wilhelm Schaefer .

Der bunte Vogel von 1899 . Ein
Kalenderbuch von O. J. Bierbaum, mit
Buchschmuck von P. Behrens. Berlin, Schuster
und Loeffler.

Herrgott, ja, wie muss man sich nun
möblieren und kleiden und den Kopf zurichten,
um dieses urgrossväterlichst ausgestattete Buch
stilvoll zu geniessen? Der kunstsinnige Leser
muss doch zu seinem so dick künstlerhaft-
exclusiven Lesebuch stimmen, wenn der An-
blick nicht zur kreischenden Disharmonie
werden soll? Wie anders wäre denn die Kunst
ins Leben zu übersetzen? Wahrhaftig, nur ein
Virtuos im Maskenspiel kann da noch mit-
kommen. Gut, ich will mein Möglichstes thun.
Ich will mich mit Urgrossvater-Hausrath um-
geben. Vatermörder, frisch gesteift! Lasse mir
einen historisch gebildeten Barbier und Friseur
kommen! Herbei die Theatergarderobe! — —
O Carneval moderner Kunst, was Du mich
kostest!

Mit Würde und Behagen blättere ich im
bunten Vogelkalender. Beginne von hinten zu
lesen. Da hat Bierbaum in künstlerischer
Steigerung zweifellos die Kostbarkeiten ge-
häuft. Richtig. Leicht und vergnüglich gibt
man sich dem Zauber dieser Lyrik gefangen.

Die eigene Kraft hineinwerfen, um alle Tiefen
zu ergründen und auszukosten? Die Anstren-
gung ist nicht gross. Der Dichter ist dem
Tiefen und Allzutiefen klug und menschen-
freundlich ausgewichen, um den Leser nicht
in schwere Versuchung zu führen. Anmuthigste
Oberflächenkunst. Schmuck-Lyrik. Für mich ist
das Böse bei Bierbaum, dass er bisweilen nicht
tiefer geht, dass oft seine Aesthesie mehr ein
Kokettieren mit dem Inhalt wirklicher Seelen-
kunst, als das Ergreifen und starke Entfalten
dieses Inhaltsreichthums ist. Das Decorierende,
Klingende und Singende überwiegt. Schmeich-
lerisches Schwelgen. Aber weiter nach vorne,
in den Prosaaufsätzen kommen noch andere
Bedenklichkeiten. Da steht sogar eine ziem-
lich verdächtige Geschichte — die Schilderung
eines Besuches, den Bierbaum in seinem
Schlosse von einem alten Herrn empfangen.
Biedermeiers Literaturfabeln und Revolutions-
legenden, alle Wetter! Seine eigenen Waffen-
gefährten von damals behandelt der brave
Otto Julius einfach wie Strassenkehrer und
Mistfuhrknechte und schlägt damit aller wirk-
lichen Geschichte ins Gesicht. Ist das ritterlich?
Die Leute, die, wie die Juden beim Tempel-
bau, in der einen Hand das Schwert, in der
andern die Kelle führten, als lächerliche Besen-
schwinger hinzustellen und die herrliche Zeit
des Um- und Aufschwunges vom Alten zum
Neuen als Rüpeljahre zu verleumden!

Der alte Herr mit erquickendem Scharf-
sinn: »Ich hatte gedacht, Ihr haltet alles, was
für uns heilig ist, für Kehricht und betet bloss
die Besen an, welche diesen wegräumen wollen.«

Der Schlossherr Bierbaum hold- und glück-
selig: »Es ist gar nicht wahr, dass wir uns
nicht verstehen können. Wir missverstehen
uns nur zu leicht, weil eine Weile lang so
ein infames Schlagwortgestöber geherrscht
hat, bei dem einem Sehen und Hören vergieng
— — — — Besen, Besen, seid’s gewesen —
— — die Schaffenden von heute wollen nicht
mehr den Schlagworten, sondern der Kunst
dienen — — die neue Kunst ist, da sie nun
ihre Rüpeljahre hinter sich hat, mündig ge-
worden, und sie wuchert jetzt mit eigenen
Pfunden.«

Mein lieber Schlossherr, das hat die neue
Kunst, wie jede echte Kunst, zu allen Zeiten
gethan, und es ist einfach nicht wahr, dass
sie sich von irgend einem besonders infamen
Schlagwortgestöber in ihrem heiligen Eifer
hat stören lassen. Das wollen wir doch besser
der bornierten und säuerlichen Schulweisheit
des Herrn Bulthaupt und Genossen überlassen,
in der prachtvollen Revolutionszeit unserer
modernen Kunst und Dichtung nichts als das
windige Treiben impotenten »Nullengelichters«
zu sehen. Die Impotenz wird von der Geschichts-
forschung dereinst auf einer ganz anderen
Seite festgestellt werden. Und Herr Bulthaupt
mag sich noch so professoral blähen, zu den
wichtigsten Potenzen in Kunst und Dichtung
wird ihn niemand rechnen.

Es ist gewiss nicht unrichtig, Bierbaum
hoch zu werten als dichterische Persönlichkeit,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 270, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-11_n0270.html)