Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 357

Die Bhagavad Gita der Indier (Hartmann, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 357

Text

HARTMANN: DIE BHAGAVAD GITA DER INDIER.

Ein Nichts, das doch die ganze Welt beherrscht,
Durch Schlaf und Trägheit bindet es die Seele.
So herrscht dann Sattwa durch das Lustgefühl,
Radschas durch Thatendrang und Wissensdurst,
Und Tamas durch die blinde Thorheit, die
Dem Lichte der Erkenntnis widersteht.«

Diese drei Elemente, symbolisiert durch
»Erde«, »Feuer« und »Licht«, bilden nicht
nur die Natur des Menschen, sondern auch
des Weltalls; im Mineralreiche ist Tamas
vorherrschend, im Thierreiche Radschas
(der Egoismus), im Menschenreiche sollte
es Sattwa (die Liebe zum Wahren, Guten
und Schönen) sein.

Eine Kenntnis der drei Grundeigen-
schaften der Natur ist von grossem prakti-
schen Nutzen, nicht nur für diese Welt,
sondern auch für unsere künftige Be-
stimmung. Sie hilft uns, jedes Ding darnach
zu beurtheilen, je nachdem es aus einer
oder der andern Eigenschaft entspringt.
So ist z. B. irgend eine Tugend, Ent-
sagung oder dgl. ganz anders beschaffen,
je nachdem in ihr die Dummheit, die
Selbstsucht oder die Erkenntnis des Wahren
der Beweggrund ist. Ferner kehrt nach
der Trennung der Seele vom Körper jedes
Wesen zu seinem Ursprunge zurück; der
Geist zu Gott, der Leib zur Erde, und
die Seele (der innere Mensch) zu dem, was
seinem eigenen Wesen entspricht.

»Und wenn die Seele diese Welt verlässt,
Wenn Sattwa in ihr reif ist, geht sie ein
Zur Götterwelt des Lichts, wo jene wohnen,
Die nach dem Guten suchten und es fanden.
Doch wenn der Körper stirbt, solange Radschas
In ihm die Herrschaft hält, so führt der Weg
Ins Reich des Feuers, dorthin, wo der Ort
Für erdgebund’ne Wesen sich befindet.
Und stirbt der Mensch, von Tamas’ Nacht erfüllt,
Starrköpfig sich dem Glaubenslicht
verschliessend,
So gibt er seine Menschenrechte auf,
Und geht verthiert zu niedern Wesen ein.
Doch wer in Treue mir, in festem Glauben
Ergeben ist und mich vor allem liebt;
Den mach’ ich frei von den Naturgewalten;
Er geht in mich, in Brahmas Wesen, ein.«

Alles dies ist schwer begreiflich, so-
lange uns der Schlüssel zu dessen Ver-
ständnis, die Lehre von der Zusammen-
setzung des Menschen und des Weltalls,
ein Geheimnis bleibt. Für eine eingehende
Besprechung dieser, wie auch der bereits
berührten Lehre, wären Folianten zu
schreiben nöthig, und wir können daher
auch diese nur in Kürze erwähnen.

Es werden im Menschen vier Bewusst-
seinszustände unterschieden, und wer sich
selbst erforscht, wird schließlich weder
mehr noch weniger finden. Dasjenige,
was uns zunächst liegt, ist unser persön-
liches, wechselndes Alltagsbewusstsein;
über diesem finden wir das Bewusstsein
des innerlichen Menschen; hoch über
diesem das Gottesbewusstsein und über
diesem das Allbewusstsein, das Absolute,
welches alles erfasst und erfüllt. Jeder
dieser Bewusstseinszustände ist ein Ab-
glanz des nächst höheren. Die indische
Lehre stellt uns dies vergleichsweise dar,
wie wenn ein Strahl der Sonne auf einen
klaren Spiegel fällt und dort einen Schein
bildet, der nicht viel weniger leuchtend
als die Sonne selbst ist. Dieser Schein
wird dann von einer dem Spiegel
gegenüberstehenden Metallplatte zurück-
geworfen und fällt von dort auf eine
Mauer, woselbst er nur mehr als ein
schwacher und indirecter Abglanz des
Sonnenscheines erscheint. Die Sonne be-
deutet die Gottheit, der Spiegel den
Logos, die Platte den inneren und die
Mauer den persönlichen, irdischen Men-
schen. Unsere Aufgabe ist es, vom
äussern zum innern Menschen, von diesem
zum Gottmenschen und von diesem
»Sohn« Gottes zum »Vater« zu gelangen.
Damit ist gesagt, dass der verkehrte und
widernatürlich gewordene Mensch erst
natürlich werden muss, ehe er ein Eben-
bild Gottes werden, und dass er erst
dann im Göttlichen aufgehen, d. h. ins
Nirwana eingehen kann.

Gott ist nicht ferne vom Menschen,
und auch nicht in die Wesen vertheilt.
Er ist die Einheit, die nicht zersplittert
werden kann. Wie aber die eine Sonne
in verschiedene Wasserspiegel scheint
und dennoch ihr Bild in jedem als ein
Ganzes erscheint, so offenbart sich auch
der eine Gott in vielerlei Herzen. Die
Geschöpfe sind nichts anderes als »Ge-
fässe«, in denen der Geist Gottes offen-
bar werden soll. Auch bedarf dieser Geist
keiner »Entwicklung«, er ist vollkommen
in sich selbst; wohl aber bedürfen die
Formen der Entwicklung und Veredlung
durch den Geist; damit der Geist in
seiner Vollkommenheit in ihnen offenbar
werden kann.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 357, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-15_n0357.html)