Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 358

Die Bhagavad Gita der Indier (Hartmann, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 358

Text

HARTMANN: DIE BHAGAVAD GITA DER INDIER.

»O Erdensohn! der Stoff, den Du erblickst,
Ist Kachetra (»das Gefäss«), ein Spielraum
ist’s,
In dem des Lebens Kräfte sich bewegen;
Was wahrnimmt, ist Kschetradschna (oder
»Geist«).
Ich bin die Seele, die in allen Dingen
Enthalten ist, die wahrnimmt und vernimmt;
Und wirkliche Erkenntnis ist nur jene,
Die in sich selbst das, was sie ist, erkennt,
Gott ist, und ist auch nicht, in allen Formen
Der Herrscher, ist er dennoch unbeschränkt;
Des Himmels Kräfte sind des Herrschers Hände;
Allsehend ist sein Auge, seine Füsse
Steh’n überall; er ist es, der die Welt
Erleuchtet, sie erhält und sie umfasst.
Glorreich in aller Sinne Kraft und doch
An nichts gebunden, Meister jedes Werkes;
Er ist der All-Ernährer, der am Ende
Die Welt zerstört und sie aufs neu’ erschafft.«

Da der Mensch als Sohn Gottes und
Product der Natur ein Ganzes ist, so
sind in ihm auch alle göttlichen Kräfte
und alle Kräfte der Natur enthalten, und
können in ihm offenbar werden, und
ebenso ist im Weltall alles, was im Men-
schen zu finden ist. Im Grossen (Makro-
kosmos), wie im Kleinen (Mikrokosmos)
finden wir dieselben sieben Principien,
die »sieben Planeten« der Alchemisten;
nicht mehr und nicht weniger; nämlich:
Das materielle Princip, die ätherische
Grundlage aller Formen, das Lebens-
princip (Prana), das Princip der Instincte
und Begierden (Kama), das Denkprincip
(Manas), die Erkenntniskraft oder Ver-
stand (Buddhi) und den göttlichen Geist
(Atma). Da nun jedes Ding nur das-
jenige in sich aufnehmen kann, was ihm
gleichartig ist, so wird auch im Men-
schen der Körper durch die Producte der
Erde, die Lebenskraft durch das allgemeine
Lebensprincip, die Leidenschaft durch die
allgemein herrschenden Leidenschaften,
der Intellect durch das Reich der Ideen,
die wahre Erkenntnis durch das Licht
der Weisheit im Weltall ernährt, und
der Götterfunke im Herzen durch die
göttliche Liebe angefacht, und je mehr
der Mensch zur wahren Erkenntnis ge-
langt, umsomehr wird sein Wille frei
und umsomehr ist er befähigt, das Gött-
liche an sich zu ziehen, es in sich auf-

zunehmen und sich von ihm ernähren
zu lassen. Wer sich Gott opfert, dem
opfert Gott sich selbst.

»Der Götter Segen sinkt zu dem herab,
Der sie verehrt. Die Nahrung, die Ihr sucht,
Wird Euch gegeben als des Opfers Lohn.«

Somit bringt sich Gott selbst zum
Opfer in dem Herzen desjenigen, der ihm
sein Herz zum Opfer bringt, und auch
dieses Opfer kann nur durch die Kraft
Gottes im Herzen gebracht werden.

»Gott ist die Liebe, Gott das Opferlamm;
Er ist’s, der opfert; und im Opferfeuer
Da ist er selbst und gibt dem Feuer Nahrung.
Es opfert Gott in Gott und lebt in Gott,
Wer in dem Opfer Gottes nur gedenkt.«

Es würde die Grenzen dieses Artikels
weit übersteigen, wollten wir die Zusammen-
setzung des Weltalls betrachten, wie sie
in der Bhagavad Gita und in den Veden
beschrieben ist. Auch ist dies bereits in
H. P. Blavatskys »Geheimlehre«* und
in den Werken von Sankaracharya**
geschehen und es bleibt uns nur noch
Raum, um einen Blick auf die Lehre vom
Karma zu werfen. ***

Das Wort »Karma« bedeutet »Hand-
lung«. Goethe sagt: »Im Anfange war
die That.« Alles Sein und Werden ge-
schieht nicht durch die leere Phantasie,
noch durch intellectuelle Speculation, noch
durch den nicht zur Ausführung gelan-
genden Willen, sondern durch die That.
Nach der indischen Lehre ist jeder Mensch
in seinem Charakter gerade dasjenige, was
er durch seine vorhergehenden Handlungen,
sei es in seinem jetzigen oder in einem
früheren Dasein, geworden ist. Darin liegt
seine Belohnung und Strafe. Thaten
werden zur Gewohnheit und die Gewohn-
heiten werden zum Wesen des Menschen.
Die Strafe eines Menschen, der sich das
Stehlen angewöhnt, ist, dass er ein Dieb
wird; die Strafe eines Menschen, der
grausame Handlungen begeht, ist, dass er
ein Teufel wird. Ebenso besteht auch die
Belohnung edler Handlungen darin, dass
das Wesen des Menschen veredelt wird
und da am Ende jedes Wesen in das-

* Die »Geheimlehre«, W. Friedrich, Leipzig, 1898.

** Sankaracharya »Tattwa Bodha«. Aus dem Sanskrit übersetzt von Dr. F. Hartmann.

*** »Lotusblüten«, Band IX.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 358, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-15_n0358.html)