Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 456

Isländische Cultur und Literatur der Gegenwart (Poestion, Josef Calasanz)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 456

Text

POESTION: ISLÄNDISCHE CULTUR UND LITERATUR DER GEGENWART.

der genannten Poeten durch eingehende
Analyse ihrer Dichtungen auseinanderzu-
setzen; ich erlaube mir daher, auf mein
Werk »Isländische Dichter der Neuzeit«
(Leipzig, 1897) zu verweisen, in dem diese
und andere Dichter mehr oder weniger
ausführlich besprochen sind und sich auch
eine grosse Anzahl übersetzter Proben
ihrer Dichtungen findet. Im Anschlusse
hieran sei hier noch je ein charakteristi-
sches Gedicht* der vier bedeutendsten, jetzt
lebenden Lyriker in deutscher Übertragung
mitgetheilt.

Von Benedikt Gröndal stammt die
seltsam phantastische Vision:

Die Geige.

Die Sonne scheidet nun mit letztem Glühen
Vom Lärm der Erde in ein schönres Land.
In hellerm Thau viel blaue Blumen blühen
Dort an des heiligen Lebensstromes Strand.
Ein Mägdlein weilt bei finstern Wasserfällen
Und weckt im Abendpurpur Träume hehr.
Nordlichter dort den heiligen Saal erhellen,
Und niemals sinkt der Mond hinab ins Meer.

Dort stehen, unvergänglich, lichte Hallen,
Und süsser Ton erfüllt den Bogengang;
Von fernher dumpf der Erde Donner schallen
Mit tiefem Basse in den heiligen Sang.
Der Geige goldner Strang Wohllaute flötet
Und funkelt oft im Sommerabendschein
Dort wird kein Schwert durch Mörderhand
geröthet,
Dort baut ihr Himmelszelt die Göttin mein.

Und laut die Harfe bebt im Sangesdrange,
Von weicher Hand berührt in dunkler Zeit,
Verwirrt vom wundersamen Wiederklange;
Denn unablässig weckt der Geist den Streit. —
Die Sterne, Geistern gleich, der See entsteigen;
Mit strengen Augen wandeln sie die Bahn,
Um blutroth wieder sich zur See zu neigen
Auf fernen Schwingen rauscht der Tod heran

Ich zwing, o Geige, nochmals dich zur Freude.
Was frommt’s, zu weinen Tag und Nächte
lang?
Was frommt’s, zu jammern stets vom alten
Leide?
Was frommt’s, zu singen ewig Klaggesang?
Was frommt’s, zu rufen längst vergangne Tage
Aus finstrer Tiefe wieder an das Licht?
Ich weiss, es lebt allewig fort die Sage,
Und jede Stunde ruft sie vors Gericht. —

Steingrímur Thorsteinsson besingt
den Aufenthalt im isländischen Hoch-
gebirge in folgenden, im Originale höchst
wohllautenden Versen:

Das Hochgebirge.

Ihr Weiten der blauen Gebirge, umsäumt
Von der Gletscher schimmerndem Kranze,
An euren Busen flieh’ ich so gern
Im Sommer mit seinem Glanze!

O lasst in euren Armen mich
Die Sommertage verbringen,
Des Abends am klaren Schwanensee
Das Leid vom Herzen mir singen.

Dein Antlitz, o Mutter, sich strahlend neigt
Zu mir, und Thränen entfallen
Den Augen dein, durchsichtig und hell,
Thauperlen, rein und krystallen.

Hier unter des Sommers Himmel will
Ich nächtigen, will ich liegen,
Hier sollst du, Island, Mutter mein,
Dein Kind in Schlummer wiegen.

Und Gottes Hauch hier macht mich so frei,
Zum Himmel schweb’ ich voll Wonne,
Zum Borne des Lichts, ins Traumland hinein,
Das schöner mir strahlt als die Sonne. —

Als Probe einer rasch hingeworfenen
Gelegenheitsdichtung mögen die Verse
Mathias Jochumssons auf zwei deutsche
Ärzte hier Platz finden, die in einem
Städtchen der Nordküste viele Kranke,
besonders Augenleidende, unentgeltlich
behandelt hatten. Mathias Jochumsson ist
der Pastor dieses Städtchens.

An die Doctoren Gr. und K.

Ihr Ärzte habt
An einem Tage
Geheilt beinahe
Hundert Augen,
So dass des Abends
Vielen aufgiengen
Die Lider-Sonnen**
Aus Leidens-Nebeln.

Lohn’s den Hilfreichen,
Des Lichtes Walter,
Hlidskjalfs*** Herr,
Hundert Male!

* Diese Übersetzungen sind bisher nicht veröffentlicht worden. Die Schwierigkeiten
der Übertragung isländischer Gedichte im Versmasse der Originale sind enorme, weshalb ich
um freundliche Nachsicht bitte. J. C. P.

** Skaldische Umschreibung für Augen.

*** Hlidskjalf ist Odins himmlischer Sitz, von dem aus er alle Welten überblicken kann.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 456, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-19_n0456.html)