Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 457

Isländische Cultur und Literatur der Gegenwart (Poestion, Josef Calasanz)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 457

Text

POESTION: ISLÄNDISCHE CULTUR UND LITERATUR DER GEGENWART.

Das eine, allklare
Auge Hlyrnirs*
Lache euch Männern
Auf allen Wegen!

Theuerste Gäste,
Nehmt diesen Dank!
Klein ist der Lohn
Der Lebens-Armen;
Doch Edelsteine,
Die Gott gezählt,
Lachen euch zu
Aus hundert Augen! —

Als Beispiel »realistischer« Dichtung
diene ein Gedicht von Hannes Hafsteinn,
das bei seinem Erscheinen nicht geringes
Aufsehen erregte:

Das Hirtenmädchen.

Ich denk’s noch, wie ich zum erstenmal
Den klarsten Beweis gefunden,
Dass er und sie nicht dasselbe sei,
Wie’s geahnt ich in manchen Stunden.

Ich gieng einst, nach den Pferden zu seh’n,
So vormittags ziemlich zeitlich.
Ich schlenderte langsam den Fluss hinauf
Und wandte sodann mich seitlich.

Und als ich zu den Schafhürden kam
Und wie gewöhnlich blieb stehen,
Erblickt’ ich ein Mädchen nicht weit von mir
Auf das musst’ ich unverwandt sehen.

Sie war sehr üppig, erhitzt und roth
Und hatte Schafe zu weiden;
Sie knüpfte eben das Hemd sich auf,
Um weniger Hitze zu leiden.

Das Haar fiel los auf die Schultern herab,
Die Lippen halb offen stunden,
Die Unterlippe war blutroth, feucht,
Es glühten die Wangen, die runden.

Das Leibchen, das ihr zu enge schon,
War oben geöffnet; es sprangen
Die Brüste vor, und das schliessende Band
War vorne ihr aufgegangen.

Die blossen Arme leuchteten hell,
Beschienen vom Sonnenglanze;
Ich sah dies alles genau mir an,
Und seltsam fand ich das Ganze.

Der Morgenwind ihr entgegenblies,
Er legte den Rock in Falten
Und zeigte, schmiegend sich an den Leib,
Die Formen, die wohlgestalten.

Da schämte ich mich und eilte davon,
Nach ihr doch spähend daneben;
Ich wusste es nicht, doch weiss ich es jetzt:
Dies hatte erweckt mich zum Leben. —

Neben der Lyrik hat sich, erst seit
der Mitte dieses Jahrhunderts, auch die
Novelle in kunstgerechter Weise ent-
faltet, obgleich sie nicht dem heimatlichen
Boden entsprossen ist, sondern vom Aus-
lande eingeführt wurde. In diesen »Neu-
sagas« werden fast durchwegs heimische
Stoffe behandelt, theils historische Be-
gebenheiten, besonders aus der alten Zeit,
theils mehr oder weniger frei erdachte
Geschichten, die in der Gegenwart spielen.
Bei den Isländern selbst haben es diese
modernen Erzählungen noch nicht zur
richtigen Beliebtheit gebracht. Viele können,
indem sie die Sagas vor Augen haben,
»diesen Dingen, die ein Einzelner er-
funden,« keinen Geschmack abgewinnen.
In den ersten Erzeugnissen isländischer
Novellistik wie in Jónas Hallgrimssons
»Auf der Moossuche«,** in Jón Th. Tho-
roddsens »Jüngling und Mädchen«*** und
»Mann und Frau«, in Páll Sigurdssons
»Adalsteinn« u. a., die moderne Stoffe
behandeln, herrscht noch ein kindlicher,
naiver Ton, der ja seine unbestreitbaren
Reize hat. Daneben fehlt es auch nicht
an einem gesunden Realismus. Mit wirk-
lich realistischer Tendenz in der Schil-
derung der Natur und des Menschen-
lebens sind jedoch erst die Novellen jener
jüngeren Dichter geschrieben, die mit Ab-
sicht der Wirklichkeitsdichtung huldigten
und sie auch auf Island zur Geltung zu
bringen suchten. Man ahmte hier zunächst
die fremden Muster nach, vor allen Drach-
mann, Kielland, Björnson, Garborg, Tur-
genjew, und die ersten Versuche gelangen
zumeist ganz vortrefflich. Das Bedeutendste
hat bisher Gestur Pálsson ( 1891)
geleistet. Seine Hauptstärke war die Satire,
die beissende Ironie, doch blieb er immer
ganz objectiv, wie Kielland, mit dem er
auch manch anderes gemein hatte; seine
Naturschilderungen stehen in engster Ver-
bindung mit dem Stoffe und erinnern in
dieser Beziehung an Turgenjew. Gestur
Pálssons Novellen liegen auch in deutschen
Übersetzungen (von Küchler u. A.) vor, z. B.
»Ein Liebesheim«, »Drei Novellen vom
Polarkreis«. Ein begabter Novellist ist auch
Einar Hjörleifsson, den wir bereits als

* Hlyrnir: Der Himmel.

** Deutsch von Poestion in: »Isländische Dichter der Neuzeit«.

*** Deutsch von Poestion in Reclams Universal-Bibliothek.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 457, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-19_n0457.html)