Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 20, S. 467

Laus Veneris I. (Swinburne, Algernon Charles)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 20, S. 467

Text

SWINBURNE: LAUS VENERIS.

Wär’ ausgestreut mein Staub am Wiesenpfad,
Dass draus erwüchse windverwehte Saat,
Und mein Gedächtnis schon hinweggewischt,
Eh noch mein Mund den letzten Seufzer that!

Denn irgendwann und irgendwo ist Tod,
Der Zeit ein Mass gesetzt und ein Gebot,
Und manches langen Daseins Spur erlischt
Oft zwischen Morgengraun und Abendroth.

O, wäre ich an jener Seelen Statt,
Mein Leben wie ein Grashalm, wie ein Blatt,
Und wäre mein das mühevollste Los,
Das für sein Tagwerk eine Spanne hat.

Draussen, wo Menschen sind, muss Winter sein.
Durchs goldne Gitterthor sah ich den Schein.
Die Wucht des Regens und des Windes Stoss
Klang viele Nächte schon zu mir herein.

Die Wälder sind jetzt ohne Pfad — ich weiss,
Am hängenden Gezweige glitzert Eis,
Und in den Stuben, wenn es draussen schneit,
Sitzen die Spinnerinnen nun im Kreis.

Ach — irgendwo, wo in den jähen Schacht
Der Sturzbach tost, wo das Gerölle kracht,
In namenloser Irrnis wild und weit,
Muss Tod sein und ein Schlafen in der Nacht!

Dort liegen sie, wie Liebende vertraut,
Reglos umschlungen, wenn der Morgen graut,
Mit Lächeln auf den Lippen, Mann und Weib,
Für alle Zeiten Bräutigam und Braut.

Wir aber liegen nicht wie Weib und Mann,
Nach satten Lüsten selig noch im Bann
Unthätger Liebe, die von Leib zu Leib
Die leise Glut erneuert, die zerrann.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 20, S. 467, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-20_n0467.html)