Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 20, S. 481

Du Prels Spiritismus und dieTheosophie (Hartmann, Franz)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 20, S. 481

Text

HARTMANN: DU PRELS SPIRITISMUS UND DIE THEOSOPHIE.

zum Höchsten, durch innerliche Erleuch-
tung, Offenbarung und Anschauung
kannten; sie stimmen vielfach mit Den
Lehren der indischen Weisen (Sankara-
charya
u. A.), oder kurz gesagt, mit Dem,
was die Gottesweisheit jedem Menschen,
der zur Selbsterkenntnis der Wahrheit ge-
kommen ist, lehrt, überein, und bilden
gleichsam den Übergang vom Rationalis-
mus zur Theosophie. Thatsächlich war
auch du Prel eines der ersten Mitglieder,
welche der im Jahre 1885 in München
gegründeten »theosophischen Gesellschaft«
angehörten, und als der Verfasser dieses
Artikels im Jahre 1886 zum Sommer-
aufenthalt in der Nähe von Kufstein mit
ihm beisammen war, nahm du Prel regen
Antheil an den Lehren von H. P. Bla-
vatsky
, sagte sich jedoch später von dieser
»theosophischen Gesellschaft« los, weil die-
selbe aus meist unreifen Elementen bestand
und seinen Erwartungen nicht entsprach.

Um nun den Standpunkt des wissen-
schaftlichen Spiritismus
, den du Prel
einnahm, und dessen Unterschied vom
Standpunkte der religiösen Erkenntnis oder
»Theosophie« klarzumachen, wird es
nöthig sein, in kurzgefassten Zügen darzu-
legen, was die Theosophie im Gegensatze
zu den Theorien der »Spiritisten« in Be-
zug auf die Zustände der Seele nach dem
Tode lehrt:

Nach den Lehren der Weisen, wie
sie z. B. in den Upanischaden, d. h. in
den Büchern der geheimen Lehren, ent-
halten sind, ist die Bestimmung, welche
die menschliche Seele nach dem Tode er-
wartet, eine dreifache, und hängt von dem
Zustande ab, in dem sich die Seele be-
findet; denn am Ende geht jedes Wesen
wieder in diejenige Quelle ein, aus der
es entsprungen ist, das Materielle zum
Materiellen, das Geistige zum Geistigen,
das Göttliche zu Gott. Die Seele eines
Menschen, die während ihres Lebens keiner
edlen Empfindung fähig war, niemals
einen Lichtstrahl des göttlichen Lichtes
empfieng und, in der Nacht der geistigen
Nicht-Erkenntnis versunken, den Körper
verlässt, wird auch nach diesem Verlassen
keines höheren Bewusstseins fähig sein,
und nachdem sie vielleicht eine kurze Zeit
in der »Mittelregion« in einem traumhaften
Zustande verharrt hat, in einem anderen

Körper wiedergeboren werden, um als
eine neue Persönlichkeit ein neues Leben
anzufangen. Diejenigen Wenigen, welche
zur Selbsterkenntnis des ihnen innewoh-
nenden göttlichen Geistes gelangt sind,
deren Seele von diesem Geiste durch-
drungen und erleuchtet ist, und die schon
auf Erden zur Vollkommenheit und Ein-
heit mit dem Göttlichen gelangt sind,
haben nichts mehr mit irdischen Dingen zu
schaffen, sie gehen in Nirwana, d. h. in
den Zustand der höchsten Seligkeit, ein.

Aber die Seelen der grossen Mehrzahl
der Durchschnittsmenschen, in denen noch
die Empfindung und Ahnung eines über
das Sinnesleben erhabenen Zustandes (die
Kraft des Glaubens) vorhanden ist, die
noch in ihrem Innersten fühlen und hoffen,
dass es ein höheres Dasein gibt, als dieses
irdische, werden durch ihre höheren Aspi-
rationen zu einer höheren Bewusstseins-
sphäre emporgetragen, welche die christ-
liche Kirche als »Himmel«, die buddhi-
stische Philosophie als »Devachan«,
d. h. die Götterwelt, bezeichnet. Diese
Aspirationen und Tugenden stellen eine
Summe von himmlischen Kräften dar,
vergleichbar mit den in einem Samen
schlummernden Kräften, aus denen ein
Baum sich entwickelt. So entwickelt sich
auch aus der Seele, d. h. aus der geistigen
Individualität, das himmlische Leben des
Menschen in der Himmelswelt. Dort ruht
die Seele in ihrer, aus ihr selbst ent-
sprungenen Welt ihrer Ideale vielleicht
für Jahrtausende, bis die himmlischen
Kräfte, welche sie mitgebracht hat, er-
schöpft sind und sie aufs neue zur Wieder-
verkörperung kommt.

In diesen himmlischen Zustand kann
aber nichts eingehen, was nicht an sich
selbst himmlischer Natur ist, und die Seele
tritt erst dann in den Himmel ein, wenn
sie alles Irdische abgestreift hat; unange-
nehme Erinnerungen, Sorgen um politische
oder Familienangelegenheiten u. dergl.
haben im Himmel keinen Platz. Nicht die
Persönlichkeit des Menschen, wie sie vor
dem Tode war, geht in den Himmel ein,
sondern seine himmlische Seele, welche
von seiner verstorbenen Persönlichkeit
ebenso verschieden ist wie die Blume einer
Pflanze von der Pflanze selbst. Wie in
der Blume die Schönheit der Pflanze offen-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 20, S. 481, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-20_n0481.html)