Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 21, S. 509

Zur Psychologie des Hellsehens (Deinhard, Ludwig)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 21, S. 509

Text

DEINHARD: ZUR PSYCHOLOGIE DES HELLSEHENS.

der astrale Theil eines Gegenstandes etwas
über den physischen Theil hinaus, so
dass Steine, Metalle u. s. w. von einer
astralen Aura umgeben sind.«

Wir gelangen hier zu dem wichtigen
Capitel über die sogenannte Aura und ich
möchte den Leser en passant darauf auf-
merksam machen, dass Leadbeater über
diesen Gegenstand vor einigen Jahren eine
kleine Schrift veröffentlicht hat, die wohl
das Lesenswerteste darstellt, was hierüber
geschrieben worden ist.* Man redet ge-
wöhnlich nur von der menschlichen Aura,
und es wird wohl das am meisten Inter-
esse erwecken, was uns Leadbeater über
diese mittheilt. Er sagt: »Die astrale Aura
zeigt Dem, der astral zu sehen vermag,
nicht nur die augenblickliche Wirkung
einer Gemüthsregung, die in dem betref-
fenden Momente durch sie hindurchflutet,
sondern sie gibt ihm auch in der ganzen
Anordnung und Vertheilung ihrer Farben
im Zustand vergleichsweiser Gemüthsruhe
einen Schlüssel an die Hand, der ihm die
allgemeine Charakter-Anlage des Eigen-
thümers dieser Aura erschliesst Bei
dieser Beurtheilung des Charakters wird
unser Hellseher durch die Gedanken des
Betreffenden unterstützt, insoweit diese
auf der Astral-Ebene zum Ausdruck und
damit auch in seinen Wirkungskreis ge-
langt. Die wahre Heimat alles Denkens
ist allerdings die Mental-Ebene, auf der sich
der Gedanke zuerst als eine Schwingung
des Mentalkörpers manifestiert. Ist dieser
Gedanke ein selbstsüchtiger oder ist der-
selbe irgendwie mit einer Regung des
Gemüthes oder einem Verlangen verknüpft,
so steigt er sofort in die Astral-Ebene
hinunter und nimmt dort eine sichtbare
Form aus astraler Materie an.«

Wenn Leadbeater hier von sichtbaren
Gedankenformen redet, so dürfte diese
Behauptung wohl bei manchem Leser ein
ungläubiges Lächeln hervorrufen. Ich
möchte jedoch den wissbegierigen Leser,
der sich eine Vorstellung bilden will, wie

sich solche Gedankenformen dem Auge des
Hellsehers darstellen, auf den wertvollen
Aufsatz »Thoughtforms« von A. Besant auf-
merksam machen, der im September 1896
in der englischen Zeitschrift »Lucifer«**
erschienen ist, begleitet von einer Zahl
colorierter Tafeln, auf denen alle möglichen
Arten von Gedankenformen so dargestellt
sind, wie sie der Hellseher sieht. Im
übrigen sei hier noch auf die beiden, auch
ins Deutsche übersetzten Schriften Lead-
beaters: »Die Astral-Ebene« und »Unsicht-
bare Helfer«*** verwiesen, in denen die
Eindrücke, die ein solcher Hellseher
empfangen kann, soweit dies überhaupt
möglich ist, näher beleuchtet sind. Die
Schwierigkeiten, die sich Dem entgegen-
stellen, der es versucht, solche Eindrücke
in den unseren physischen Sinnes-Ein-
drücken entsprechenden Ausdrücken zu
schildern, werden ja jedem Denkenden
einleuchten. Naturgemäss führen Lead-
beaters Ausführungen über das Hellsehen
immer tiefer und tiefer in den Occultismus
hinein, wohin ihm nur derjenige Leser
mit Verständnis zu folgen vermag, der
hiezu die nöthigen Vorstudien gemacht hat.

Den der übersinnlichen Weltanschauung
nicht allzu fernstehenden Leser dieser
Rundschau dürften nun aber mehr noch
als derartige Aufschlüsse über das, was
der Hellseher alles wahrzunehmen ver-
mag, die Frage interessieren: auf welche
Weise oder nach welcher Methode sich
diese Fähigkeit im Menschen entwickeln
lässt, und ich möchte es nicht unterlassen,
dem berechtigten Wunsche nach Auf-
klärung über diesen Punkt hier einiger-
massen Rechnung zu tragen. Allein ich
befürchte, dass sich Mancher diesen Ent-
wicklungsgang viel leichter vorstellt, als
er in Wirklichkeit ist. Dass diese Methode,
nach welcher sich solche höheren, in jedem
Menschen latenten Fähigkeiten zu belie-
bigem Gebrauch erwecken lassen, nicht
so einfach sein kann, beweist ja schon
der Umstand, dass wirklich geschulte
Hellseher so außerordentlich selten zu

* Die Aura. Deutsch im Metaphysischen Verlag, Berlin-Zehlendorf.

** The Theosophical Publishing Society, London W., 3 Langham Place.

*** Beide bei Wilh. Friedrich in Leipzig erschienen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 21, S. 509, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-21_n0509.html)