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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 619

Text

SCHLAF: ERNST HÄCKELS »WELTRÄTHSEL«.

der Vogt und Büchner nach darstellt,
überwunden zu haben. Ein Geistes-
verwandter Spinozas und Goethes, baut
er auf den Grundlagen der neuesten
exact-wissenschaftlichen Ergebnisse und
der Darwin’schen Entwicklungstheorie das
Gebäude eines philosophischen Monismus
auf, versucht er eine neue, zeitgemäße,
monistische Philosophie zu begründen;
wie in seinen früheren Werken, der
»Anthropogenie« und der »Natürlichen
Schöpfungsgeschichte«, so auch in diesen
»Welträthseln«.

Was ich stets an seinen Werken be-
wunderte, was ich wie ein Merkmal der
Größe empfand und würdigte, war der
logische Aufbau seiner wissenschaftlichen
Forschungsresultate, das großzügige Welt-
bild, das der hervorragende Biologe von
der Entwicklung des organischen Lebens
zu geben versteht und das gleichsam, zu
allen seinen sonstigen Vorzügen, eine unge-
wöhnliche künstlerische Begabung darthut.
— Diese Entwicklungsgeschichte der or-
ganischen Lebewesen von dem amorphen
Protoplasma an, über die Protisten und Ur-
thiere bis zu den Menschenaffen und dem
Homo sapiens hinauf; dieser lange wunder-
same Werdegang der organischen Zell-
seele von ihren ersten unbewussten
Regungen in den Protisten und Moneren
bis hinauf zur geistigen Hochcultur des
Menschen! Und die mütterlichen Urgründe
dieser organischen Seele: wie prächtig
sind sie etwa mit einem Satz bezeichnet,
wie diesen, den ich auf Seite 247 finde:
»Die ganze wunderbare Gestaltenfülle,
welche unseren Erdball belebt, ist in
letzter Instanz umgewandeltes Sonnen-
licht.« Oder die Lehre von der indivi-
duellen Verdichtung oder Densation der
einheitlichen Substanz: welche gewaltigen,
weittragenden Vorstellungen erweckt sie
etwa in einer Stelle, wie der folgenden:

»Durch gewisse Constellationen, Störungs-
centren oder Deformierungs-Systeme
treten große Massen von Verdichtungs-
centren rasch in gewaltiger Ausdehnung
zusammen und erlangen ein Übergewicht
über die umliegenden Massen. Dadurch
scheidet oder differenziert sich die Sub-
stanz, die im ursprünglichen Ruhezustand
überall die gleiche mittlere Dichte besitzt,
in zwei Hauptbestandteile: die Störungs-

centren, welche die mittlere Dichte durch
Pyknose positiv überschreiten, bilden die
wägbare Masse der Weltkörper (die
sogenannte »ponderable Materie«); die
dünnere Zwischensubstanz dagegen, welche
zwischen ihnen den Raum erfüllt und die
mittlere Dichte negativ überschreitet,
bildet den Äther (die »imponderable
Materie«). Die Folge dieser Scheidung
zwischen Masse und Äther ist ein un-
unterbrochener Kampf dieser beiden anta-
gonistischen Substanztheile, und dieser
Kampf ist die Ursache aller physikalischen
Processe. Die positive Masse, der Träger
des Lustgefühles, strebt immer mehr, den
begonnenen Verdichtungsprocess zu voll-
enden und sammelt die höchsten Werte
potentieller Energie; der negative
Äther umgekehrt sträubt sich in gleichem
Maße gegen jede weitere Steigerung seiner
Spannung und des damit verknüpften
Unlustgefühles; er sammelt die höchsten
Werte actueller Energie.«

Hier ist alles auf sich selbst ge-
richtetes
Lieben und Hassen des einen
unendlichen und ewigen Weltwesens; hier
sind alle Lust- und Unlust-Empfindungen
seines immanenten Dranges nach Selbst-
erfassung; hier ist alle Einheit und
Identität. Hier ist der dualistische Gegen-
satz zwischen Geist und Materie, Kraft
und Stoff ausgeglichen; hier ist Monismus,
Identität und Einheit.

Indessen: ich weiß nicht, ob ein
Monismus bereits genügt, der in allem
übrigen und wesentlichen doch nicht über
die mechanische Weltauffassung des
bisherigen Materialismus hinausgeht und
der sich allzu einseitig auf den Ergebnissen
exact-wissenschaftlicher Empirie aufbaut.

Es ist zweifellos, dass Häckel in einem
viel zu hohen Grade Fachmann seiner
Wissenschaft ist, als dass er der Begründer
einer neuen monistischen Philosophie werden
könnte. Er ist in den Geisteswissenschaften
viel zu sehr und oft viel zu grober
Dilettant, als dass er einen wahrhaft
umfassenden Weltblick und eine neue
philosophische Synthese vermöchte. —
Seine Kritik der Bibel, des Christenthums
und seiner Heilslehren ist z. B., um hier
nur eins hervorzuheben, für jemand, der
auf diesen Gebieten eingehendere Kennt-
nisse besitzt, oft geradezu unleidlich ober-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 619, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-26_n0619.html)