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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 620

Text

SCHLAF: ERNST HÄCKELS »WELTRÄTHSEL«.

flächlich, trivial und in einem gewissen
unangenehmen Sinne populär.

Ich will auf gut Glück ein Beispiel
geben. Seite 412 schreibt Häckel: »Die
Familie gilt uns ja mit Recht als die
»Grundlage der Gesellschaft« und das
gesunde Familienleben als Vorbedingung
für ein blühendes Staatsleben. Ganz anderer
Ansicht war Christus, dessen nach dem
»Jenseits« gerichteter Blick die Frau und
die Familie ebenso gering schätzte, wie
alle anderen Güter des »Diesseits«. Von
den seltenen Berührungen mit seinen
Eltern und Geschwistern wissen die
Evangelien nur sehr wenig zu erzählen;
das Verhältnis zu seiner Mutter Maria
war danach keineswegs so zart und innig,
wie es uns Tausende von schönen Bildern
in poetischer Verklärung vorführen; er
selbst war nicht verheiratet. Die Ge-
schlechtsliebe, die doch die erste Grund-
lage der Familienbildung ist, erschien
Jesus eher als ein nothwendiges Übel.«

So viel Worte, so viel Oberflächlich-
keiten, die die Laienschaft Häckels und
sein flüchtiges Nachdenken auf diesen
Gebieten darthun.

Christus schätzte die Familie durchaus
nicht gering. Niemand hatte strengere
Begriffe von der Heiligkeit der Ehe. Dass
er und die Seinen sich nicht verheirateten
und keinen Umgang mit dem anderen
Geschlechte hatten, sagt dagegen gar
nichts; das war eine Nothwendigkeit für
Männer, die nur dieser ihrer geistigen
Aufgabe lebten und sich auf sie zu con-
centrieren hatten. Wenn Christus aber die
Geschlechtsliebe wohl hin und wieder
als ein »nothwendiges Übel« erschien, so
ist dies so tief und bedeutsam wie möglich,
denn wie aller Lust und alles Hohen Ur-
heberin, ist sie nicht minder die Wurzel
alles Leides, aller Schmerzen und socialen
Zwiespalte; uralt sind die Klagen, dass
»das Weib bitter sei«. (Cf. die Auffassung
der geschlechtlichen Liebe bei einem
Modernen wie Gabriele d’Annunzio.) Nicht
minder hat es mit dem »Diesseits« und
dem »Jenseits« so seine Bewandtnis und
mit Christus’ Verhältnis zu seiner Mutter.
Im übrigen beachtet Häckel bei seiner
Kritik des Christenthums nicht, dass so
viele seiner Lehren, Grundsätze und Be-
griffe einem Zeitalter ihr Gepräge ver-

danken, das, wie kaum ein zweites, ein
Zeitalter der »Bilder und Gleichnisse« und
des Symbolismus war, dass ihr Geburts-
land der phantastische Orient, das Mutter-
land des Märchens, der Mystik und der
tiefsinnigen Fabel; er nimmt alle diese
Begriffe und Lehren — recht unhistorisch
und also wohl auch unkritisch — viel zu
wörtlich.

Und etwa seine Kritik der Trinitäts-
Lehre! Gewiss mag diese mit ihrem sym-
bolistischen Gewände für uns keine Bedeu-
tung mehr haben; dennoch weiß ich nicht,
ob man sie so ohneweiters, wie Häckel
es thut, als absurd hinstellen darf. Jeden-
falls ist es ergötzlich, dass man sie leichter
Mühe mit dem Standpunkt der modernen
Wissenschaft versöhnen kann. Gott, der
Vater, Gott, der Sohn, und Gott, der heilige
Geist: Drei in Einem und Einer als Drei.
Drei »Personen« und doch im Grund nur
Einer. Dies ist, so paradox es erscheinen
mag, dennoch so consequent monistisch
als nur denkbar. Und der exacteste Monist
muss zugeben: die Sache liegt noch viel
wunderlicher, da nicht nur Drei Eins sind,
sondern sogar Milliarden und Abermilliarden;
die ganze unermessliche Mannigfaltigkeit
der organischen Wesen zum Beispiel, wie
es Häckel im Anschluss an das Gesetz von
der Erhaltung der Kraft so schön bezeich-
nete, »in letzter Instanz umgewandeltes
Sonnenlicht« und also bereits als solches
und in diesem eine Einheit. Sagen wir
nun für Gott das All und Eine und sagen
wir für Christus, den »Sohn«, das Indi-
viduum, so ist dieses Individuum nichts
anderes, gerade im Geist der Wissenschaft,
als das All und Eine, »Vater« und »Gott«;
dessen ein begrenzter Theil, in seinem
Wesen doch aber Substanz; Accidenz der
Substanz, dennoch aber in seinem Wesen
nichts anderes als Substanz und mit dieser
identisch. Wie ich nun aber das acciden-
tielle Individuum von dem Begriff der
Substanz loslöse und sondere, so kann ich
auch als ein Besonderes von diesem acciden-
tiellen Individuum den Geist — seine
Lehre, sein Lebenswerk — loslösen und
als ein Drittes und Besonderes hinstellen,
den Geist, der nach dem Tode des Indi-
viduums weiterwirkt, obgleich eigentlich
dieser Geist nichts anderes ist, als die
Summe individueller psycho-physiologischer

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 620, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-26_n0620.html)