Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 624

Die materielle und moralische Stellung des Schriftstellers in Paris II. (Mauclair, Camille)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 624

Text

MAUCLAIR: DIE STELLUNG DES SCHRIFTSTELLERS IN PARIS.

Das Übel ist materiell und moralisch,
und die Vortheile des Journalismus sind
lügnerisch. Sie nützen nur den falschen
Künstlern, den Fabrikanten, die wirklichen
können dabei nur verderben und sich über-
arbeiten. Der Leser wird dieser Ansicht
beipflichten, wenn er unter den literarischen
Redacteuren der heutigen Zeitungen die-
jenigen näher betrachtet, die ein Genre
glänzend eingeführt haben; nicht einer ist
darunter, der dieses Genre nicht endlos
wiederholt und sich nicht selbst herabsetzt.
Andere veröffentlichen alte Artikel aufs
neue, die sie zu Beginn ihrer Laufbahn
in anderen Blättern veröffentlicht haben.
Bei allen merkt man das Handwerk, die
Technik, die Mätzchen, die mühselige
Wiederholung.

Das Milieu der Schriftsteller ist buch-
stäblich von Eitelkeit, verschiedenen Posen,
falschen, gekünstelten Manieren und
Theorien durchsetzt. Diese Gesellschaft
lebt in einem Strudel, und ihre Hampel-
männer sind, so skeptisch sie auch zu
sein glauben, sehr naiv, denn sie haben
nie Zeit, sich zu studieren. Nur damit
beschäftigt, Effect hervorzubringen, bilden
sie sich keinen Charakter und drehen sich,
während sie alles zu beherrschen glauben,
in einem ganz kleinen, socialen Kreise.
Die Pariser Eitelkeit erzeugt eine Art
systematischer Lüge; jeder lügt hinsicht-
lich seiner Stellung, seiner Pläne, seiner
Sympathien, seines Ursprungs, seiner
Meinungen und sogar seines Namens. In-
dividuell ist der Schriftsteller ziemlich
ehrlich und ziemlich gut; in Massen wird
er katzenfreundlich, verleumderisch und
unerträglich. Zwischen dem Journalismus
und der Literatur versteht er nicht zu
wählen, und so erniedrigt er sich, indem
er die beiden entgegengesetzten Pole der
Frage vereinigen will. Darum sehen wir
auch so viele unerhörte Existenzen voll
Künstelei, Schlichen, Ränken und falschem
Glänze in den literarischen Zeitungen und
unter ihrem glänzenden Personal.

Der junge debütierende Schriftsteller ist
gezwungen, Aufsehen zu erregen und hastig
zu producieren, also sich gleich zu Beginn
zu ruinieren, im Augenblick, da er sich Zeit
lassen und seinen Geist stärken sollte.
Wenn der Journalismus ihn ablehnt, und
ihn erst zu sich nimmt, sobald sein Ruf

durch die Bücher gefestigt ist, so nimmt
er ihn bereits abgespannt, kauft ihn auf
seinen Namen hin und bekommt nur den
Abhub, während das herrlichste Talent
des jungen Mannes in den kleinen, nicht
zahlenden Revuen und in unbekannt blei-
benden Büchern draufgeht. Der Journa-
lismus ist der moralische Krebs der Lite-
ratur. Er vernichtet und demoralisiert die,
die mit ihm in Berührung kommen, er ver-
schließt denen die Pforten, die sich nicht
mit ihm beschäftigen, denn er hat seinen
Hass und seine Cliquen. Das Publicum
weiß nicht, dass es heutzutage unmög-
lich ist, von einem Buche in einer
Zeitung zu sprechen, ohne dass der
Artikel als bezahlte Reclame angesehen
wird, und ohne dass der Verleger oder der
Autor die Kosten tragen. Abgesehen von
den sogenannten Kritikern, die fünf bis
sechs Zeitungen höchstens besitzen, existiert
die Buchkritik im Pariser Journalismus
nicht, die Notizen werden bezahlt, und
ein Schriftsteller, der von einem anderen
sprechen will, kann das nur heimlich im
Laufe irgend eines Satzes thun. Es gibt
sogar, wie man behauptet, berühmte Leute,
die Bücher auf der ersten Seite eines Blattes
besprechen, nachdem sich der Verleger mit
dem Chef-Redacteur und mit ihnen selbst
finanziell geeinigt hat. Das »Lancieren«
eines Bandes ist eine Geldfrage, und der
sogenannte literarische Journalismus hat
die Kritik von ehedem getödtet, die
ein Buch von Talent entdeckte, dasselbe
aus Liebe zur Literatur besprach und auf
diese Weise das Vermögen des Autors
schuf. Heute ist der wahre »Ruhmver-
theiler« der Cassier, und nur in den
Revuen findet man eine wirkliche Kritik.

Man sieht, auf welchen gefährlichen
Weg das Leben in Paris und der Journa-
lismus den Schriftsteller reißen. Seine
Eitelkeit erstarkt, sein Neid erwacht, sein
Talent zersplittert sich, seine Energie und
sein Glaube lösen sich im Skepticismus
auf; hält er sich aber bei Seite, so pro-
fitiert er nichts. Entweder muss er sich
also in dieses Leben stürzen und die Un-
annehmlichkeiten wie die Vortheile des-
selben mit in den Kauf nehmen oder es
fliehen. Und doch würde der Pariser Schrift-
steller alles für verloren halten, wenn er sich
nicht die Flügel an dieser Flamme ver-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 26, S. 624, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-26_n0624.html)