Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 109

Landschaft Die Philosophie des Giordano Bruno II. Die Beziehungen zwischen Thema und Material (Wenban, Sion L.Kuhlenbeck, Ludwig, Dr.Rappaport, Felix)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 109

Text

RAPPAPORT: DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN THEMA UND MATERIAL.

Mit Sinn, Vernunft und Geist erschau ich deine
Unendlichkeit, die keine Zahl ermisst,
Wo überall Mitte, nirgends Umfang ist,
In deinem Wesen wohnet auch das meine.

Wen erinnerte dies nicht an Fichtes
Verse, in denen er die Quintessenz seiner
eigenen Philosophie zusammenfasst:

Das Ewig-Eine
Lebt mir im Leben, sieht in meinem
Sehen —
Nichts ist denn Gott, und Gott ist nichts denn
Leben,
Gar klar die Hülle sich vor dir erhebet;
Dein Ich ist sie, es sterbe, was vernichtbar,
Und fortan lebt nur Gott in deinem Streben!

Vom Verfasser vorstehender Abhandlung sind folgende Übersetzungen aus den Schriften
Giordano Brunos erschienen:

1. Eroici Furori oder Zwiegespräche vom Helden und Schwärmer. Leipzig,
W. Friedrichs Verlag.

2. Giordano Bruno vom Unendlichen, dem All und den Welten.
Berlin 1893, Lüstenöder (jetzt bei Albert Warnecke, Leipzig).

3. Giordano Brunos Reformation des Himmels oder die Vertreibung
der triumphierenden Bestie
. Leipzig, H. W. Theodor Dieters Verlag, 1899.

4. Lichtstrahlen aus Giordano Brunos Werken. Leipzig, H. W. Theodor
Dieters Verlag, 1899.

Vgl. außerdem: Bruno, der Märtyrer der neuen Weltanschauung, 2. vermehrte
Aufl. Von L. Kuhlenbeck. Leipzig, H. W. Theodor Dieter, 1899. — Lorbeer und Rose,
Sonette und andere Gedichte von Giordano Bruno, übersetzt von L. Kuhlenbeck, nebst einer
Auswahl eigener Dichtungen. Frankfurt a. O., bei H. Andres & Co. (jetzt bei Gaadenfelt & Co.
in Berlin).

DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN THEMA UND MATERIAL.
Von FELIX RAPPAPORT (Wien).

Vom Wesentlichen der Kunst zu
reden ist heute beinahe unmöglich ge-
worden. Die das ablaufende Jahr-
hundert kennzeichnende Sucht, Wesent-
liches zu vermeiden und Überflüssiges,
Äußerliches, Nebensächliches hervorzu-
heben, hat, vereint mit jener eingeborenen
Begriffsschwere, welche alles wörtlich
nimmt, auf diesem Boden ihre aus-
schweifendsten Orgien gefeiert. Nach-
dem eine sogenannte Ästhetik in der
Undefinierbarkeit der von ihr aufge-
stellten Begriffe ertrunken war, ist eine
psychologische Kritik aufgetaucht, die
aber zur Kunst ebenfalls nur ein äußer-
liches und literarisches Verhältnis hat.
Kunstgeschichte ist nicht Künstler-
geschichte; Zeitströmungen, Lebens-
verhältnisse, persönliche Eigenschaften
und Absichten eines Künstlers erklären
uns nicht einen einzigen Pinselstrich.
Die Kunst fängt eben da an, wo die

Absichten aufhören: eine Dunkelkammer
hat keine Absichten.

Vielen, die sich für berufen halten,
scheint es überhaupt noch nicht
klar zu sein, dass es sich hier um
Forschung, Naturforschung, exacte
Naturwissenschaft—das Wort im weite-
sten Sinne genommen — handelt. Der
für alle Künste geltende Ausspruch des
Aristoteles, welcher der Musik einen
physikalisch und einen mathematisch
fassbaren Theil zuschreibt, ist nicht
oder höchstens in seiner ersten Hälfte
beachtet worden. Die meisten scheinen
noch nicht einmal zu ahnen, dass Kunst-
werke jenseits des Willens und seiner
Werkzeuge stehen und dass voll-
kommenste Passivität der Anfang der
Kunst ist; dass das Werk infolge eines
mit geometrisch darstellbarer Folge-
richtigkeit sich abspielenden Entwick-
lungsprocesses entsteht, der mehr oder

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 109, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-05_n0109.html)