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weniger wahrnehmbar fast sämmtliche
Theile des menschlichen Organismus
afficiert. Wären die Gesetze dieser
Vorgänge genauer bekannt, so könnte
man das Erscheinen von Kunstwerken
vorherberechnen wie das Eintreten
meteorologischer Ereignisse.
Die Unkenntnis der Ursprünge des
Werkes und die gänzliche Unklarheit
bezüglich der Vorgänge, welche dem
Sichtbarwerden der Stimmung, der
Materialisierung des Themas zu-
grundeliegen, haben die zahlreichen Miss-
verständnisse verschuldet, welche in
schöner Folge sich gegenseitig ablösten.
Bevor noch die Wüste der programm-
matischen Pseudomalerei durchschritten
war, schlief man in der Oase des
allzu Decorativen ein, Für die Durch-
schnittsbegabung ist es allerdings kenn-
zeichnend, dass sie lediglich ein Ver-
hältnis
zum Material mitbringt; aber
die Kunst liegt in anderen Factoren.
Die Ursache des Werkes ist das
Thema, die Stimmung, der νοῦς; das
Werk ist seine Neu-Erstehung, ver-
dichtet aus demjenigen Material, dessen
Sinn dem Thema identisch ist.
Werk bedeutet Wirkung.
Infolge gewisser, bisher noch nicht
ganz aufgeklärter Prädispositionen
steht das Innenbewusstsein, welches
der Persönlichkeit des Künstlers zu-
grunde liegt, mit einer Reihe von
Themen — Stimmungen — in Ver-
bindung. Diesen nähert es sich zeit-
weilig
im Verlaufe seiner
kreis-
förmigen
Bahn, abwechselnd, wie
der Planet den Zeichen des Thierkreises.
In einer gewissen Entfernung tritt es
infolge des Gravitationsgesetzes
unter ihren Einfluss; es empfängt die
vor ihnen ausstrahlende Bewegung und
reflectiert dieselbe. Der Reflex trifft das
Material.
Thatsächlich vollziehen sich diese
Vorgänge — auf deren Räumlichkeit
auch das deutsche »Einfall« hinweist —
nicht in dieser Form; das Innenbewusst-
sein kennt die Formen des Raumes,
der Zeit, der Causalität nicht. Uns
zwingt jedoch unsere intellectuelle Be-
schaffenheit, auch psychische Vorgänge
geometrisch darzustellen. Der Versuch,
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Bewegungsgesetze geistiger Kräfte
zu untersuchen, ist das einzige Mittel,
ihnen nahezukommen.
Je nach der Stärke der Anziehung
lassen sich zunächst drei Möglichkeiten
dieses Vorganges feststellen. Im ersten
Fall kann die vom Thema kommende
Ausstrahlung unmittelbar das Innen-
bewusstsein treffen und geradlinig aus-
treten. Ist die Gravitation schwächer, so
tritt der Strahl zunächst in den Intellect,
wird hier gebrochen und zum Centrum
geleitet, welches ihn unter demselben
Ausfallswinkel reflectiert. Die dritte
Möglichkeit liegt im Eintreten der Be-
wegung in das Nervensystem, welches
er unter einem Winkel verlässt, um
ohne Vermittlung des Intellects das
Centrum zu berühren.
Diesen drei Eindrucksarten
entsprechen drei
Ausdrucks-
mittel, welche ihrem Wesen nach mit
ersteren identisch sind. Sie liegen drei
Kunstarten zugrunde. Die erste, welche
rein intuitiv das Thema unmittelbar aus-
drückt, arbeitet der Musik ähnlich
mit den Stufen der Licht-Tonleiter. Sie
ist bisher fast nie aufgetreten; nur
bei Rembrandt, dessen Lichtwirkungen
jedenfalls nicht von der Sonne stammen,
finden sich Ansätze dazu. Die außer-
ordentliche Leichtigkeit und Macht ihres
Ausdrucksmittels (Kohle) ermöglicht es
ihr, Dinge darzustellen, welche keinem
andern Material zugänglich sind Die
zweite Möglichkeit des durch den In-
tellect vermittelten Eintrittes entspricht
der Zeichnung. In der Natur existiert
die Linie nicht; sie ist ein auf Ab-
straction beruhendes gedankliches Aus-
drucksmittel. Darum ist sie litera-
risch, erzählend, bewusst, tendenziös;
jede Zeichnung ist eigentlich eine
Caricatur. Auch die Versuche einzelner,
die Linie zu befreien und sie rhyth-
misch und melodisch zu behandeln
(Toorop), lehnen sich an associative
Verstandeskräfte. Die große Mehrzahl
derjenigen, die sich für Maler halten,
besteht aus Zeichnern; dieses Miss-
verständnis liegt der »Kunst« fast des
ganzen Jahrhunderts zugrunde.
Der Strahl, der, im Nervensystem
gebrochen, ohne intellectuelle Vermitt-
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