Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 112

Landschaft Die Wahrheit der Maske (Wenban, Sion L.Wilde, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 112

Text

DIE WAHRHEIT DER MASKE.
Von OSCAR WILDE (London).*

In den vielen und lebhaften Angriffen,
welche in jüngster Zeit wieder auf die
Pracht der Ausstattung im Theater gemacht
worden sind, namentlich bei classischen
Stücken und Shakespeare-Aufführungen,
scheint man von der stillschweigenden
Annahme ausgegangen zu sein, dass
Shakespeare selber ziemlich gleichgiltig
gegen die Bekleidung und Verkleidung
seiner Schauspieler gewesen sei, dass für
ihn die Handlung alles, Masken und
Costüme nur untergeordnetes Beiwerk
bedeutet habe. Was insbesondere die
historische Richtigkeit der Costüme an-
belangt, so hat Lord Lytton vor kurzem
in der »Nineteenth Century« behauptet,
die Archäologie sei beim historischen
Schauspiel ein ganz überwundener Stand-
punkt, und der Versuch, sie wieder einzu-
führen, nur die überflüssige Pedanterie eines
wissenschaftlich-bigotten Zeitalters.

Lord Lyttons Standpunkt werde ich
späterhin untersuchen; was aber die
Theorie anbelangt, Shakespeare habe sich
überhaupt nicht um die Theater-Garderobe
seiner Bühne bekümmert, so kann sich
jeder, dem es der Mühe wert erscheint,
seine Methode zu erforschen und zu prüfen,
davon überzeugen, dass es gar keinen
Dramatiker der französischen, englischen
oder athenischen Bühne gegeben hat, der
mehr Gewicht auf die illusorischen
Wirkungen der Masken, Costüme und
Verkleidungen seiner Schauspieler gelegt
hat, als gerade Shakespeare.

In richtiger Erkenntnis der Bedeutung,
welche die Schönheit des Sichtbaren und
Glanzvollen auf der Bühne für das künst-
lerische Temperament als Mittel zur An-
regung besitzt, schiebt er in seinen Stücken

fortwährend Aufzüge, Tänze, Verkleidungen
und Verwechslungen ein, lediglich, sofern
sie nicht mit der Haupthandlung mit
Vorbedacht schon verknüpft sind, um der
Freude am sichtbar Schönen willen, welche
das Auge dabei genießen kann. Wir be-
sitzen glücklicherweise noch heute seine
eigenen Vorschriften und Anleitungen für
die drei großen Fest-Aufzüge in Hein-
rich VIII., Vorschriften, welche mit der
größten Ausführlichkeit jede Einzelheit
bestimmen, bis zum vielgefalteten Steif-
kragen Seiner Majestät und den Perlen im
Haare der Anna Buleyn. Es wäre für
einen modernen Regisseur kinderleicht,
diese großartigen Fest-Umzüge genau so
wiederzugeben, wie Shakespeare sie vor-
gezeichnet hat. Sie waren so der Wirklich-
keit nachgeahmt, dass sogar ein damaliger
Hofbeamter, anlässlich der letzten Auf-
führung des Stückes im Londoner Globe-
Theater, in einem Briefe an einen Freund
über die nach seiner Meinung zu wahrheits-
getreue Wiedergabe klagt, insbesondere
über die Zulassung der Ritter des hohen
Hosenband-Ordens in der Ordenstracht,
welche geeignet sei, die feierliche Würde
der Ordensgebräuche herabzusetzen, ganz
ähnlich, wie unlängst die französische
Regierung einem Schauspieler in Regiments-
uniform aufzutreten verbot, weil es den
Ruhm der Armee gefährden könne, wenn
ein Oberst carikiert würde.

Der Pomp der Gewänder auf der unter
Shakespeares Einfluss stehenden englischen
Bühne wurde vielfach von zeitgenössischen
Kritikern angegriffen, nicht so sehr auf
Grund ihres demokratisch herabdrückenden
Wirklichkeitssinnes, als vielmehr aus mora-
lischen Gründen, welche, wie heute, so zu

* Dieser Aufsatz (den »Intentions« des Verfassers in gekürzter Form entnommen) mag
im Hinblicke auf das moderne Bühnen-Elend umso zeitgemäßer sein, als wir in der Erkennt-
nis fortschreiten, dass die Schaubühne nicht nur in der »Einheit der Handlung«, sondern auch
in der »Einheitlichkeit des Sichtbaren« das große geschlossene Kunstwerk schaffen
muss, wenn sie uns »jubelfestlich stimmen« und über uns hinausheben soll.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 112, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-05_n0112.html)