Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 113

Landschaft Die Wahrheit der Maske (Wenban, Sion L.Wilde, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 113

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WILDE: DIE WAHRHEIT DER MASKE.

allen Zeiten die letzte Zuflucht der
Leute sind, welchen der Schönheitssinn
mangelt.

Der Punkt jedoch, den ich hier be-
tonen und eingehend erörtern will, ist
nicht in erster Linie der, dass Shakespeare
den Wert schöner Costüme und malerischer
Effecte zu schätzen wusste, sondern dass
er sich der Costüme unmittelbar bediente,
um bestimmte, mit der Handlung eng
verknüpfte dramatische Wirkungen
zu erzielen.

Mehrere seiner Stücke, wie: »Maß
für Maß
«, »Wintermärchen«, »Die
beiden Veroneser
«, »Ende gut,
alles gut«, »Cymbeline« u. a. hängen
hinsichtlich der Illusion zum großen Theil
von der Art der Bekleidung ab, deren sich
der Held oder die Heldin bedienen; die
reizende Scene in Heinrich VI., die
sich auf das moderne Wunder der Heil-
kraft durch Suggestion und Sympathie be-
zieht, wäre unmöglich, wenn Gloster
nicht in Schwarz und Scharlachroth er-
schiene; in den »Lustigen Weibern«
hängt die Lösung der Intrigue von der
Farbe ab, welche Anna Pages Röckchen
hat. Was die Benützung der Verkleidungen
anbelangt, so macht Shakespeare den
allerweitgehendsten Gebrauch davon. Kaum
weniger zahlreich sind die Fälle, in denen
die Kleidung zur Verstärkung der dra-
matischen Wirkung ausgenützt wird. Nach
der Ermordung König Duncans erscheint
Macbeth im Nachtgewand, als ob er aus
dem Schlafe geweckt sei; Timon endet
in Lumpen die Rolle, die er in Glanz
begonnen; Richard schmeichelt in einer
gemeinen und schäbigen Rüstung dem
Selbstgefühl der Londoner Bürger, um,
nachdem er durch Blut zum Throne ge-
watet, mit Krone, Schild und Ordensband
durch die Stadt zu maschieren; im »Tem-
pest« wird der Höhepunkt erreicht, indem
Prospero seinen Zaubermantel abwirft und,
während Ariel Hut und Rapier herbei-
schafft, sich als der große italienische
Fürst entpuppt. Sogar der Geist im
»Hamlet« wechselt sein mystisches Ge-
wand, um verschiedene Wirkungen zu
erzielen.

Ein heutiger Bühnenschreiber würde
wahrscheinlich die arme Julia nur in
ihr Leichentuch gebettet haben und den

letzten Aufzug als Schreckensscene allein
wirken lassen. Shakespeare kleidet sie in
ein blendendes Prunkgewand, dessen fun-
kelnde Herrlichkeit das Grabgewölbe durch-
leuchtet wie ein »Fest des Lichtes« und
die Todtenkammer in ein Brautgemach ver-
wandelt. Er liefert damit den Schlüssel
zum Verständnis von Romeos letzter Rede,
die in einem Lobgesang auf den Sieg der
Schönheit über den Tod ausklingt. Selbst
die scheinbaren Nebensächlichkeiten des
Anzuges, wie die Färbung der Knie-
strümpfe des Ceremonienmeisters, das
Druckmuster eines Frauen-Taschentuches,
der Ärmel des jungen Soldaten, die Hutform
der Hofdamen, werden unter Shakespeares
Händen Dinge von dramatischer Wichtig-
keit, durch welche in manchen Fällen die
Handlung des Stückes bedingt wird.
— Andere Dramatiker haben sich der
Kleidung als Mittel bedient, um gleich
beim ersten Auftreten die Bedeutung einer
Rolle auszudrücken, aber kaum jemals so
glänzend wie im Falle des bunten Gecken
Parolles, für dessen Costüm in seiner
ganzen Erhabenheit übrigens nur ein
Kenner der Archäologie volles Verständ-
nis haben kann. Die Situationskomik, die
darin liegt, dass Herr und Diener ihren
Rock vor den Augen der Zuschauer um-
wechseln, dass schiffbrüchige Matrosen
über einen Haufen kostbarer Seidenstoffe
herfallen und sich den Raub, noch triefend
von Seewasser, streitig machen; dass ein
Kesselflicker in den Sonntagskleidern eines
hoffähigen Grafen herumstolziert: das
alles gehört in die »Geschichte der großen
Maske«, deren wir uns bedienen in der
Entwicklung des Costüms von Aristophanes
bis auf unsere Tage. Aber keiner hat
jemals aus den zufälligen Äußerlichkeiten
des Kleides und Schmuckes eine solche
Ironie der Gegensätze und Schicksale,
solche unmittelbare tragische Wirkungen,
solches Mitleid und solches Pathos zu
schöpfen vermocht, wie gerade Shake-
speare.

Bis an die Zähne bewaffnet und in
königlicher Rüstung erscheint der Geist
auf der Schlossterrasse von Helsingör,
weil im Lande Dänemark »etwas nicht in
Ordnung ist«. Imogen scherzt unwissend
über den Verlust des Armbandes, das
bereits auf dem Wege nach Rom ist, um

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 113, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-05_n0113.html)