Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 114

Landschaft Die Wahrheit der Maske (Wenban, Sion L.Wilde, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 114

Text

WILDE: DIE WAHRHEIT DER MASKE.

sie hinterlistig der Treue des Gatten zu
berauben:

»Vergangene Nacht war’s noch an meinem Arm,
Ich küsste es;
Ich hoffe sehr, es ist nicht fortgegangen,
Um meinem Herrn zu sagen,
Dass ich noch außer ihm etwas geküsst.« —

König Duncan sendet an Lady Mac-
beth einen Ring in der Nacht, da er er-
mordet ward, und Portias Ring verwandelt
die Tragödie eines Großkaufmannes in die
Komödie einer klugen Frau. Der große
Rebell York stirbt mit einer Papierkrone
auf dem Haupte und Hamlets schwarzes
Kleid bildet das Farbenmotiv zum ganzen
Trauerspiel. Der Höhepunkt von Antonius’
Leichenrede fällt zusammen mit der An-
spielung auf Cäsars zerfetzten Mantel,
wobei der Redner mit raffinierter Aus-
führlichkeit jeden einzelnen Dolchstich
beschreibt und zuletzt das Mitleid zur Wuth
anfacht, indem er die Bürger fragt, warum
sie schon beim bloßen Anblick von
Cäsars Mantel
weinten? Die Blumen,
welche Ophelia in ihrem Wahnsinn trägt
und austheilt, als streue sie ihre zerfallene
Seele aus der Hand auf den Boden, sind
so rührend wie Veilchen, die auf einem
Grabe blühen. Der furchtbar-grausame An-
blick des auf der sturmdurchfegten Heide
umherirrenden Lear wird über alles, was
Worte auszudrücken vermögen, erhöht
durch das phantastisch-wilde Farbenspiel
seiner Kleidung. Wenn Cloton, durch das
Gleichnis und den Hohn aufgestachelt,
den seine Schwester in Bezug auf das
Gewand ihres Gatten ihm zufügt, sich in
dasselbe Gewand einhüllt, um die Schändung
an ihr zu begehen, da fühlen wir, dass im
ganzen modernen Realismus der Fran-
zosen — das Meisterstück Therese Raquin
nicht ausgenommen — nichts vorhanden
ist, was an entsetzlicher Tragik und tiefer
Bedeutsamkeit mit dieser seltsamen Scene
in »Cymbeline« verglichen werden kann.

In Bezug auf die Hilfsquellen, die
Shakespeare zu Gebote standen, ist es
bemerkenswert, dass er sich wiederholt
darüber beklagt, er müsse seine großen
historischen Stücke auf einer so be-
schränkten Bühne aufführen und manche
der im Freien gedachten Effecte aus Mangel
an scenischen Apparaten fortlassen. Trotz-
dem schreibt er aber stets wie ein Dra-

matiker, dem eine unbeschränkte Theater-
garderobe zur Verfügung steht und der
sich darauf verlassen kann, dass seine
Darsteller besonders auf ihre »Aus-
staffierung« achten werden.

Merkwürdig ist der Gegensatz zu
einigen französischen Dramatikern, be-
sonders der classischen Schule. »Racine
abhorre la réalité
,« sagt Auguste Vacquerie,
»il ne daigne pas s’occuper de son costume.
Si l’on s’en rapportait aux indications du
poète, Agamemnon serait vêtu d’un sceptre
et Achille d’une épée.
« Shakespeare schreibt
vor, dass Rosalinde hochgewachsen sei,
einen Speer und einen kleinen Dolch tragen
soll; Celia sei kleiner und soll ihr Gesicht
braun schminken, um sonnenverbrannt aus-
zusehen. In einem weißen Nachtlaken steht
die Herzogin von Gloucester neben ihrem in
Trauerkleider gehüllten Gemahl. Das bunt-
scheckige Kleid des Narren, das Scharlach-
tuch des Cardinals, die französischen
Lilien, auf den englischen Röcken gestickt,
sind alle Gegenstand zart-scherzender oder
grob-höhnender Anspielungen im Wechsel-
gespräch. — Auch bezüglich der Bärte
ist Shakespeare sehr mittheilsam und gibt
den Schauspielern mancherlei Winke, wie
sie sie kleben oder anbinden sollen.

Die ganze »Philosophie der Beklei-
dung« ist in dem Zwiegespräch enthalten
zwischen Lear und Edgar — eine köst-
liche Stelle, die den Vorzug der Kürze
und des Stils vor der grotesken Weisheit
und den etwas weithergeholten meta-
physischen Gleichnissen des Sartor Resartus
besitzt. Shakespeare legt auf Fetzen und
Lumpen denselben Wert wie auf Gold-
brocat; für ihn ist Caliban ebenso wichtig
wie Ariel, weil er die Bedeutung der
künstlerischen Schönheit auch in der Häss-
lichkeit erkannt hatte.

Die Schwierigkeiten, die der Franzose
Ducis bei der Übersetzung von »Othello«
empfand hinsichtlich der Bedeutung eines
so »gemeinen Gegenstandes wie Des-
demonas Schnupftuch«, und infolgedessen
sein Versuch, den unästhetischen Effect
zu mildern, indem er den Mohren aus-
rufen lässt: »Le bandeau! Le bandeau!«,
können als unterscheidendes Merkmal
zwischen der »Tragédie philosophique«. und
der Tragik des wirklichen Lebens aufgefasst
werden; und die erste Zulassung des

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 114, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-05_n0114.html)