Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 117

Landschaft Die Wahrheit der Maske Unser Leben und Tod I. (Wenban, Sion L.Wilde, OscarButtenstedt, Carl)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 117

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BUTTENSTEDT: UNSER LEBEN UND TOD.

erzeugt; dem, der sie trägt, sollen sie
Kleider sein! Denn ehe ein Schauspieler
nicht in seiner Kleidung heimisch wird,
ist er auch nicht heimisch in seiner Rolle.

Häufige Costümproben sind wünschens-
wert, um dem Schauspieler klarzumachen,
dass es für jeden Stil und jede Mode in
der Kleidung Formen der Haltung, Geste
und Bewegung gibt, welche der Kleidung
nicht nur angepasst, sondern nothwendig
durch dieselbe bedingt sind. So war
beispielsweise der »verschwenderische Ge-
brauch« der Arme um die Mitte des ver-
flossenen Jahrhunderts eine natürliche
Folge der großen Reifen, die den Unter-
körper umgitterten. In Bezug auf Aus-
druck beruht die düstere Würde eines
Burleigh auf der Form seiner Halskrause
nicht minder, wie auf seinem politischen
Verstand.

Für den fein empfindenden Künstler
lässt sich aus einer Stuhlform oder einem
Taillenschnitt das ganze zeitgeschichtliche
Milieu errathen, von einer egyptischen Urne
auf Egypten schließen oder von einem
griechischen Vasenbild auf Homer und die
Ilias. Denn wer die eine einzige Ausdrucks-

form wirklich nachfühlend verstanden hat,
der versteht sie alle. In einem Spitzen-
kragen liegt ebensoviel »Zeitgeist« wie
in der Innen- und Außen-Architektur oder
der Umgangsform derselben Epoche; man
soll an einem Stuhlbein erkennen, ob der
Sessel im Zeichen des Reifrockes, des
Dampfes oder der Elektricität entstanden ist.

Zum Schlusse möchte ich noch be-
merken, dass nicht alle meine vorhergehen-
den Ausführungen als absolute Wahrheit
blindlings hingenommen werden sollen.
Es kam mir nur darauf an, zunächst
einen festen Augenpunkt zu finden: die
erste Vorbedingung zur ästhetischen
Kritik. In der Kunst ist Wahrheit das-
jenige, dessen Gegentheil auch wahr ist,
weil es eine unbedingte Wahrheit nicht
gibt. Nur im Kunstkritischen vermögen
wir die platonische Ideenlehre und Hegels
System der Gegensätze zu überschauen
und zu fassen. In der Flucht der Er-
scheinungen ziehen, wie große Schatten-
bilder al fresco, die Ausgleichungen ruhig
und sicher vorüber.

Die Wahrheit der Metaphysik ist auch
die Wahrheit der Maske.

UNSER LEBEN UND TOD.
Von CARL BUTTENSTEDT (Rüdersdorf-Berlin).*
I.
DAS MECHANISCHE PRINCIP DES ORGANISMUS.

Die Natur bleibt allzeit die erste un-
mittelbare Offenbarung Gottes über uns.

G. Forster.

Die Wissenschaft spricht von einer
Lebens-Kraft und von einer Heil-Kraft,
wie sie denn auch zugesteht, dass die
Natur allein heile, der Arzt die Natur
nur unterstütze. Wie kann man aber
eine Kraft unterstützen, wenn man die
Wirkungsweise, die Wirkungsrichtung,

kurz: das Wesen der zu unterstützenden
Kraft nicht kennt? Zu einer rationellen
Unterstützung der Naturheilkraft gehört
also auch eine genaue Kenntnis dieser
Kraft.

Die naturwissenschaftliche Beobachtung
der Thiere der freien Natur, ja selbst

* Carl Buttenstedt, der mit der obigen Arbeit eine Reihe natur-philosophischer Studien
eröffnet, ist als Entdecker des »mechanischen Flugprincips« bekanntlich einer der
geschätztesten Gelehrten jenseits der großen Zunft. Es sei hier namentlich auf seine zwei

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 117, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-05_n0117.html)