Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 119

Landschaft Unser Leben und Tod I. (Wenban, Sion L.Buttenstedt, Carl)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 119

Text

BUTTENSTEDT: UNSER LEBEN UND TOD.

derselben durch die Muskelkraft unserer
Hand in vielleicht einer Viertelminute voll-
zieht, dass aber die Arbeit der Entspannung,
also der Gang der Uhr, wohl 14 Tage
dauert, weil man eben der Entspannungs-
bewegung Hindernisse in den Weg gelegt
und Zahnräder eingefügt hat, welche die
schnelle Entspannung der Feder verhindern.
Darüber darf man sich aber keiner Täu-
schung hingeben, denn, wenn auch die
Entspannungsarbeit volle Wochen, die
Spannungsarbeit nur den Theil einer Minute
dauert, sind doch beide Arbeiten nur
gleichwertig; die Entspannungsarbeit kann
niemals größer sein als die der Spannung,
wohl aber kleiner, weil durch Ermüdung
des elastischen Materials Kraft verloren geht,
d. h. in andere Form sich umsetzen kann. —
Doch die wichtigste Betrachtung für unsere
Zwecke ist die der Spannungs- und Ent-
spannungsmechanik jenes kleinen Gummi-
ballons, der als Kinderspielzeug für einige
Kreuzer käuflich ist. Ungefüllt nimmt
sein Material einen kleinen Raum ein,
weil es sich im Zustande elastischer Ruhe
befindet. Führen wir nun Gas oder Luft
in den Ballon ein, so wird die elastische
Ruhe des Ballonmaterials gestört, der
Ballon spannt sich immer mehr auf bis
zu seiner vollen Füllung, und nach Be-
endigung derselben hat sich alle Füllungs-
arbeit in elastische Spannkraft des Ballon-
materials umgesetzt. Diese fordert nun
ihre Entspannung, indem sie von allen
Seiten auf das umschlossene Gas oder die
Luft einwirkt, also einen Druck nach dem
Mittelpunkte des Ballons zu ausübt, d. h.
mit anderen Worten: das elastische Material
des Ballons strebt danach, seine Ruhelage
wieder einzunehmen, die es vor seiner
Aufspannung eingenommen hatte. Dieser
Arbeitsdruck auf das eingeschlossene Gas etc.
dauert nun so lange, bis der leichte Körper
durch Diffundierung aus den Ballon-
wandungen sich entfernt hat — und das
sind etwa 24 bis 36 Stunden.

Diese ganze Mechanik hat nun die
größte Ähnlichkeit mit unserer Verdauungs-
Arbeit,* denn unsere gesammte Muskulatur
ist elastisch in Länge, Breite und Tiefe;
nur muss man sich die Elasticität nicht in

dem Maße denken wie bei dem Gummiballon.
Mit jedem Schluck Flüssigkeit, mit jedem
Mundvoll Speise, die wir hinunterschlucken,
pressen wir Stoffe in den Körper hinein,
für die in unserem Innern Raum geschaffen
werden muss. Durch das Einführen der
Speise werden somit in uns elastische
Muskeltheile aus dem Raume verdrängt,
den diese im Zustande ihrer elastischen
Ruhelage einnahmen. Wenn wir also vor
der Einführung der Speise völlig ausge-
hungert waren, so befanden wir uns in
dem Zustande elastischer Ruhe unserer
Muskulatur, also in unserer normalen Körper-
form; jeder Muskel ruhte in dem Räume,
der ihm im Zustande elastischer Ruhe
zukommt. Mit dem ersten Quantum Speise,
das wir hinunterschlingen, ist die elastische
Ruhe unseres Muskelmaterials gestört, wir
haben Nahrungsstoffe in einen Raum
gepresst, der im Ruhezustande unserer
Muskulatur, also den elastischen Bestand-
theilen dieser Muskeln zustand, und die
Folge ist, dass die verdrängten Theile der
Muskeln sich den ihnen genommenen
Raum wieder erobern wollen. So ist der
Kampf um den Raum in uns geweckt.
Nicht nur der Magen für sich drückt auf
die eingeführten Stoffe, sondern auf den
Magen drückt wieder seine ganze Umgebung
(die Eingeweide) und unsere Umhüllung
(die Haut), ganz ähnlich wie der Ballon
auf seinen Gasgehalt.

Nach einer beendeten Mahlzeit ist
sonach die ganze Schlingarbeit, die wir
bewusst geleistet haben, in Spannkraft des
Muskelmaterials umgesetzt, die sofort mit
der Aufgabe beginnt, ihre Entspannungs-
arbeit zu verrichten und den zweiten Theil
der Arbeit, das Ausführen der Speisereste
aus dem Organismus, zu besorgen. Ein
Theil der eingeführten Nahrung tritt in
Gasform durch die Hautporen ins Freie,
ein anderer Theil verlässt als Flüssigkeit
durch den Harncanal und der festere Theil
durch den Darmcanal den Körper. Was
nun der Körper Brauchbares in der Nahrung
findet, das assimiliert er und bestreitet davon
die Kosten des Verbrauches an Lebens-
thätigkeit; aber ein normales Leben in
der Functionierung unserer mechanischen

* Bisher hat die Heilkunst hauptsächlich mit der Chemie, nicht aber mit der Mechanik
des Körpers gerechnet.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 119, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-05_n0119.html)