Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 121

Landschaft Unser Leben und Tod I. (Wenban, Sion L.Buttenstedt, Carl)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 121

Text

BUTTENSTEDT: UNSER LEBEN UND TOD.

diese Thiere müssen sich täglich ausgiebig
nach Nahrung umhertummeln und erhalten
so ihre gesammte Muskulatur spannkräftig.

Wer also bei Krankheiten die Naturheil-
kraft rationell unterstützen will, muss keine
neuen Stoffe in seinen Körper einführen,
sondern seiner Muskulatur Zeit lassen,
sich zusammenzuziehen, um dadurch die
überflüssigen alten Stoffe aus dem Körper
herauszudrücken. Die spannkräftigste
Muskulatur entfernt entbehrliche Stoffe am
schnellsten aus dem Körper, daher liegt
in der normalen Spannkraft die Immu-
nität gegen jede Krankheit, wie in dem
größten Mangel an Spannkraft die ge-
fürchtete Disposition zu allen möglichen
Krankheiten liegt! Denn nicht das bringt
uns Krankheiten und Tod, was wir in den
Körper (abgesehen von Giften) hinein-
bringen, sondern das, was wir nicht wieder
durch eigene Spannkraft hinaustreiben
können. Und so gibt es sozusagen nicht zahl-
lose, sondern nur eine einzige Krank-
heit, und das ist der Mangel an Spannkraft
des Muskelmaterials; je tiefer die Spann-
kraft unter normal ist, umso hilfloser
ist sie den Krankheitsstoffen gegenüber,
und umso schwerer ist dann die Krankheit.
So ist es erklärlich, dass eine Matrone
mit welken Muskeln an der einfachen
Influenza sterben, ein Anderer zwei Wochen,
ein Dritter zwei Tage daran laborieren
kann, während ein Athlet zwar gleichfalls

von dieser Krankheit angesteckt werden
kann, aber nicht viel davon merkt, weil
seine Spannkraft diese Krankheitsstoffe
sofort wieder absondert.

Dass es mit dieser Thätigkeit des
mechanischen Princips in uns seine
Richtigkeit hat, wird von der Fachwissen-
schaft u. a. auch dadurch bewiesen, dass
viele Ärzte — so namentlich der be-
deutende italienische Kliniker Professor
Dr. de Domenicis — die schwersten und
leichtesten Krankheiten durch Fasten
heilen.*

Wenn man vor naturwissenschaftlichen
Räthseln steht, muss man eben nicht nach
den compliciertesten Ursachen und Gründen,
sondern nach den einfachsten Erklä-
rungen suchen, dann findet man die Lösung
am leichtesten.** Unsere ganze Verdauungs-
arbeit ist also meiner Meinung nach weiter
nichts als eine Störung der elastischen
Ruhe unseres Muskelmaterials (durch will-
kürliche Einführung von Nahrungsstoffen)
und eine versuchte Wiederherstellung der
elastischen Ruhe seitens des verdrängten
Muskelmaterials. Der Kampf um den
Raum
in uns bricht ab (Tod!), sobald sich
die Entspannungskraft unseres Muskel-
materials, die selbstthätig wirken muss,
den nöthigen Raum nicht mehr zu schaffen
vermag. Auf diesen Kampf um den Raum
aber kommt es ausschließlich an.***

* Professor de Domenicis hat nach vielfachen Experimenten am menschlichen und
thierischen Körper gefunden, dass das Fasten — innerhalb bestimmter Grenzen und in rationeller
Weise durchgeführt — ein wirksames Präservativmittel wider Bacterien-Infection bildet und
auch bei acuten und chronischen Leiden (Lungenentzündung, Gicht etc.) widerstandsfähiger
gegen die vergiftende Wirkung der Krankheitserreger macht, da jede Verdauungsstörung die
Blutmischung derart beeinflusst, dass schon dadurch der Entwicklung bacterieller Keime etc.
Vorschub geleistet wird. Professor de Domenicis beobachtete beispielsweise auch einen schweren
Influenzafall, dessen rapiden Verlauf er auf die Wirkung bacterieller Gifte im Verdauungscanal
zurückführte; er ordnete in entsprechender Weise eine Fastencur an und konnte bereits nach
vier Tagen eine erhebliche Besserung constatieren. Trotz der Hungercur — wir sagen: wegen
derselben — kehrten die Kräfte rasch wieder.

** »Die Erfahrungen von allen, welche sich mit der Erforschung der Natur-Erschei-
nungen beschäftigt haben, stimmen zuletzt darüber überein, dass diese durch weit einfachere
Mittel und Ursachen bedingt und hervorgebracht werden, als man sich gedacht hat oder als
wir uns denken; gerade diese Einfachheit müssen wir als das größte Wunder betrachten!«

Justus von Liebig.

*** Wie sich durch Weiter-Entwicklung des hier aufgestellten Princips eine (auch praktische)
Überwindung des Todes (des Sterbenmüssens) denken lässt, die übrigens — so utopisrisch
sie auch scheint — bereits von ärztlichen Autoritäten gestützt wird, soll in Artikel II dar-
gelegt werden.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 5, S. 121, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-05_n0121.html)