Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 179

O grave where is thy Victory Symbolische Kunst Die Formen der Dichtkunst (Toorop, JanScholz, Wilhelm vonBleibtreu, Carl)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 179

Text

BLEIBTREU: DIE FORMEN DER DICHTKUNST.

Kostbarkeiten in sich birgt, rollt er durch
die klare, kleine Welt unseres bewussten
Alltags. Den Künstlern, den Sonntags-
kindern, wirft er die fremden Kostbarkeiten
zu Der dunkle Lebensvorgang ist
immer von unserem Bewusstsein ausge-
schlossen. Aber er kann sich unserem
Bewusstsein kundthun: in großen, schein-
bar unvermittelt auftauchenden Spiegel-
bildern, die er in unserer Phantasie wach-
ruft. In ihnen ist ein Abglanz der Welt,
aus der der Strom kommt, sie geben uns
Wahrheit, sie sind die Symbole des
Lebens
, das wir nur in solchen Phantasie-
spiegelungen verstehen können. Solche
Gedanken müssen Friedrich Hebbel be-
wegt haben, als er einmal schrieb, er
glaube, die Phantasie schöpfe aus der-
selben Tiefe, aus der die Welt der Er-
scheinungen überhaupt heraufgestiegen sei;
oder wenn er von der Symbolisierung
seines Innern spricht. Auch Heinrich
Heine spricht von der »eingeborenen
Symbolik eingeborener Ideen«.

So ist die symbolische Kunst recht
eigentlich eine Kunst des Lebens; die
schaffende Lebenskraft ist es, die hinter
all ihren Symbolen steht. Aber — und
das unterscheidet das Symbol wieder deut-
lich von der Allegorie — diese Lebens-
kraft ist in der symbolischen Kunst nicht
etwa in erdachten, poetischen Bildern ge-
geben, sondern es ist für sie in dieser
Kunst der einzige Ausdruck gefunden,
unter dem wir den Vorgang Leben be-
greifen. Und wir symbolisieren nichts als
dies Eine, Letzte, das Leben: Alles, was
in der Berührung mit unserer Seele lebendig
geworden ist, spricht uns nur mehr vom
Leben, freilich in der besonderen Form
und Rhythmik, die es in jedem einzelnen
Falle annehmen musste. Aber nur all Das,
was wir in uns begruben, was in uns
verweste, kann als Schatten an den Strom
niedersteigen, in dem es irdisches Ver-
gessen und ewiges Leben trinkt: drunten
im Lande unserer Phantasie. Nur dort
wird es zum lebendigen Symbol.*

* Angesichts der Verwirrung und des Lärms, der neulich um ein angeblich »symbolisti-
sches« Bild tobte, mag es an der Zeit sein, die oben behandelten Fragen in Anregung
zu bringen.

DIE FORMEN DER DICHTKUNST.
Von CARL BLEIBTREU (Berlin-Wilmersdorf).

Jedes menschliche Urtheil ist bekannt-
lich subjectiv oder, um es drastischer
herauszusagen, von Selbstsucht gefärbt.
Die Ausdehnung und Anschwellung seines
Ich-Bewusstseins unterscheidet den Men-
schen vom Thier, leiht ihm seine Größe
und sein Fortschreiten, aber auch Größen-
wahn und kleinliche Schwäche. Deshalb ist
wahre Menschenkenntnis so selten, die so
klare Physiognomik ein Buch mit sieben
Siegeln, weil das Ich jedes ihm gegen-
übertretende Object nicht objectiv sieht,
ja gleichsam es überhaupt nicht sieht,
sondern bloß subjectiv daran schnüffelt,
ob es einen Vortheil oder Nachtheil davon
erwarten könne. Das Thier, worüber wir
uns thöricht mit der Phrase vom »In-
stinct« wegtäuschen, urtheilt viel objectiver.

Hund, Katze, Papagei lassen sich von sub-
jectiven Eindrücken nicht blenden, weisen
Schmeichelei und Futter vom Einen ab,
lassen sich durch Gleichgiltigkeit oder
Prügel vom Andern nicht abstoßen. Mit
ruhigem Blick beobachten sie, studieren
das Gesicht eines Sprechenden und geben
plötzlich, nachdem ihre intuitive Be-
trachtung mit sich schlüssig wurde, Be-
weise ihrer objectiven Zuneigung oder Ab-
neigung. Die unheimlich richtige Menschen-
kenntnis intelligenter Thiere ist lediglich
ein Ergebnis ihrer Objectivität. Nicht so
der Mensch. Selbst beim Weibe, das in
mancher Hinsicht objectiver angelegt als
der Mann, wirkt blendende Subjectivität,
sobald der Geschlechtstrieb egoistisch sich
regt. Der elegante Verführer erscheint

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 179, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-08_n0179.html)