Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 181

O grave where is thy Victory Die Formen der Dichtkunst (Toorop, JanBleibtreu, Carl)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 181

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BLEIBTREU: DIE FORMEN DER DICHTKUNST.

slavischer Dramatiker schlechtweg eine
unentwickelte Cultur folgern möchte, so
wird man doch wahrlich die vornehmste
Culturnation, die italienische, nicht ab-
lehnen dürfen: sie hat ihre Dichterkraft
nur im Gebiete epischer Allegorie
von Dante bis Leopardi erschöpft. (Denn
auch letzteren wird man wie Petrarca
nicht bloß als Lyriker auffassen dürfen.)
Übrigens würden die Griechen es sich
verbeten haben, wenn man Sophokles
über Homer erhoben hätte, und das
deutsche National-Epos, das Nibelungen-
lied, enthält unter sämmtlichen dichterischen
Schöpfungen das stärkste Shakespeare’sche
Element, d. h. die Shakespeare ähnlichste
Grandiosität der Conflicte und Gestalten.

Die landläufige Annahme, dass nur
im Drama sich die höchste Dichterkraft
entfalte, widerlegt sich also vollständig
durch unumstößliche Thatsachen. Denn
es lassen sich ohnehin die literarischen
Gebiete kaum so völlig trennen, wie der
äußere Anschein es dem ästhetisch Un-
gebildeten vorspiegelt. In Shakespeares
Dramen quillt die reichste Lyrik, ja seine
dramatische Technik in ihrer oft un-
concentrierten Breite. Woran die classi-
cistischen Franzosen theoretisch mit
Recht
Anstoß nahmen, darf man im
Grunde episch nennen. Wahrhaft dra-
matisch im höchsten Sinne ist nur die
immer gleiche fortreißende Leidenschaft
der Darstellung, das folgerichtige Vor-
wärtstreiben zur Katastrophe. Ist dieses
aber das eigentlich Dramatische, so wäre
der Nibelungen-Dichter, vornehmlich im
zweiten Theile seines Epos, neben dem
Briten der größte Dramatiker, und hält
man die concentrierte Knappheit
des scenischen Conflicts für das Wesent-
liche der dramatischen Kunst, so möchten
wir mehreren Gesängen des Nibelungen-
liedes, die jeder für sich eine Einzel-Tragödie
bildet (wie der Tod Siegfrieds oder
Rüdigers oder Dieterichs Seelenkampf oder
Hagens Untergang), entschieden den Vor-
zug vor Shakespeare zusprechen. Dagegen
fehlt den angeblichen Dramen Goethes
alle und jede dramatische Begabung im
höheren Sinne, von der episch-lyrischen
Technik ganz abgesehen, während Schillers
Bühnenstücke von technischer Meisterschaft
und dramatischem Leben strotzen. Wer

aber möchte wohl diese äußere Über-
legenheit des Dramatikers Schiller für
die gewaltige innere Größe des Dichters
Goethe eintauschen wollen! Das in an-
geblich dramatische Scenen zerhackte
Milieu-Epos »Götz von Berlichingen« bleibt
eine herrliche Dichtung von wundervoller,
zauberhafter Frische, während die Rhetorik
Schillers immer mehr verblasst und nur
noch äußerliche Wirkungen übt. Und wer
möchte die bestgelungenen »Dramen« —
Shakespeare immer ausgenommen — an
dichterischem Wert mit der kosmischen
Lyrik des »Faust« oder der Byron’schen
Mysterien vergleichen! Nun muss freilich
auffallen, dass Goethe wie Byron für ihre
höchsten Aufflüge dramatische Form wähl-
ten, und hier nähern wir uns offenbar
einem bedeutsamen Geheimnis dichterischer
Zeugung, nämlich dem indirecten Beweise,
dass trotz allem oben Gesagten die dra-
matische Dichtungsform an sich wirklich
die mächtigste und vornehmste sei, wie
denn auch — mag man Homer noch so
hoch stellen — Einiges im Äschylos und
Sophokles an Größe der Conception über
die edelste Tragik der Ilias sich erhebt.
Und nicht die Ilias zeigt bezeichnender-
weise die epische Kunst in ihrer feinsten
Blüte, sondern das minder groß angelegte
Idyll der Odyssee, so wie auch die einzig
gelungene Vers-Epik der modernen Zeit-
alter in Goethes Kleinstadt-Idyll »Hermann
und Dorothea« glänzt. Wo aber der
Nibelungen-Dichter, wie oben erwähnt, als
ein größter Tragödiensänger auftritt, da
wird seine Darstellung selber unbewusst
rein dramatisch in heißbewegter, knapper
Wechselrede, so dass man mühelos seine
Strophen in Dialoge theilen könnte. Um
etwas Beliebiges herauszugreifen, welche
Bühnenscene ergäbe der Gesang »Wie
Hagen vor Kriemhild nicht aufstand«, ohne
dass man nur ein Wort zu ändern brauchte,
oder »Wie die Königinnen sich schalten«,
oder der kurze Auftritt — vielleicht das
Höchste, was die poetische Tragik jemals
erreichte — wie Kriemhild den todten
Siegfried vor ihrer Thür findet! Aus ein-
zelnen Theilen, wie der Brünhild- oder
Rüdiger-Episode, haben neuere Dichter
selbständige Tragödien nachschaffen wollen,
Hebbel suchte das ganze Nibelungen-Motiv
dramatisch nachzuformen, ohne dass es

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 181, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-08_n0181.html)