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ihm geglückt wäre, der schlichten Größe
des Urbildes nahezukommen. Da nun das
Nibelungenlied thatsächlich dort überall
am gigantischesten sich emporreckt, wo es
zum reinen Drama wird, so liegt auch hier
wiederum der indirecte Beweis dafür,
dass das Dramatische, im weitesten
Sinne gedacht, wirklich den Gipfel der
Poesie bedeutet. Aber das »Dramatische«
ist nicht identisch mit dem »Drama«.
Wenn wir das Dramatische als diejenige
Art bezeichnen, zu welcher unwillkürlich
die wahre höchste Tragik und Größe sich
zuspitzt, so bezieht sich dies keineswegs
auf die äußere Form des Dramas. Und
wenn wir es andererseits als bedeutsam
auffassen, dass Goethe und Byron ihre
mächtigste philosophische Weltschmerz-
Allegorie in äußerlich dramatische Form
gössen — Dante, Cervantes, Milton
jedoch in epische, welcher auch Byron
im übrigen treu blieb — so mag zwar
keine äußere Zufälligkeit (beim »Faust«
das Vorliegen der Marlowe’schen »Faust«-
Tragödie und der alten Puppenspiele, beim
»Manfred« und »Kain« die Erinnerung
an die altenglischen Mysterienspiele, ein
gewisser Anstoß durch Goethes »Faust«
und die Abneigung, etwas Biblisches nach
Milton episch zu behandeln) dabei vor-
walten. Vielmehr glauben wir, den tieferen
Grund darin zu erkennen, dass die drama-
tische Form bei aller Beschränkung anderer-
seits eine gewisse Freiheit vor der epischen
gewährt, insofern sie sich mit ein paar
Worten über Scenenwechsel und Neben-
dinge wegsetzen darf, welche der Epiker
umständlicher erörtern muss. Bestehen
also solche philosophische Lehrgedichte
im wesentlichen aus Monologen und Dia-
logen — zwischen Faust und Mephisto,
Kain und Lucifer — so drängt sich dem
Denker, dem das Dichterische hier nur
Mittel zum Zweck ist, von selber die
äußerlich dramatisierende Dialogform auf.
Wer aber würde darob »Faust« und »Kain«
dramatisch oder gar Drama im wirklichen
Sinne nennen! Sollte aber das Drama —
wohlgemerkt, nicht »das Dramatische« —
als höchste Kunstform gelten, so könnte
selbstredend nur diejenige künstlerische
Fassung in Frage kommen, bei welcher der
Begriff des Dramas und seine eigentüm-
lichen Vorzüge, sowie die reifste Technik
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desselben allein sich ausprägen müssten,
nämlich das wirkliche Bühnendrama.
Also nicht das Shakespeare’sche, das
technisch immerfort für die Bühne umge-
wandelt und zugestutzt werden muss,
hiedurch aber für den Kenner stets im
Bühnen-Eindruck hinter der Lectüre zurück-
bleibt — sondern das auf den Regeln
des »classischen« Racine-Dramas nachge-
baute moderne Bühnenstück des Sardou
und Ibsen, dessen technische Weiterbildung
wir freilich erst in Strindbergs Einacter
»Comtesse Julia« finden: nämlich absolute
Einheit des Ortes und der Zeit, Zusammen-
drängung eines ganzen Lebens-Conflictes auf
die eine letzte Katastrophe. Wir werden
aber alsbald einsehen, dass dieses sozu-
sagen einzig legitime Drama zwar den
stärksten äußeren Kunstverstand erfordert
und technisch ohne Zweifel die reifste
Kunstform bedeutet, dagegen dichterisch
ein klaffendes Manco hinterlässt. Denn
je vollkommener das reine Drama sich
künstlerisch auslöst, je naturwahrer es den
Bühnenschein vermeiden will, desto un-
natürlicher muss es dichterisch werden.
Wie kann man die tausend Fäden eines
ganzen Lebens mit allen Wurzeln, wie
nur die Epik sie entrollt, in einen zeitlich
und örtlich einheitlichen Bühnen-Ausschnitt
zusammendrängen! Gerade, indem man
das reine und natürliche Drama sucht,
verfällt man dichterisch in undramatische
Epik; denn man muss unwillkürlich aus
der Vergangenheit erzählen lassen, die
Prämissen der Handlung nämlich, statt
diese Vorbedingungen selber handelnd vor-
zuführen, wie das Shakespeare’sche breite
Epen-Drama. Man sieht, wir gerathen hier
stets von Scylla in Charybdis, und etwas
Endgiltiges, als Norm Giltiges lässt sich
gar nicht erreichen. Jedenfalls muss ein-
für allemal mit dem Unsinn aufgeräumt
werden, als ob das »Drama« dichterisch
über der Epik stünde. Sogar in der orienta-
lischen Poesie finden wir dafür den Beleg.
Denn mag auch Kalidasas herrliche »Sa-
kuntala« als geschlossenes Kunstwerk den
Vorzug verdienen, so bezeugt Firdusis
großes Epos doch eine weit umfassendere
Dichterkraft.
Das Gleiche trifft aber auch mehr oder
minder für die Lyrik zu, welche der Halb-
gebildete als geringste Dichtform ausgibt.
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