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Nun ist aber »Faust« nichts als Lyrik, mit
spärlichen epischen Zusätzen vermischt, des-
gleichen die Byron’sche Poesie im großen
Ganzen. Die zwei größten modernen
Dichter sind im tiefsten Wesen Lyriker
gewesen. Byrons eigentliche Lyrik steht
freilich weit zurück, auch hatte er vom
Wesen des Dramas entschieden richtigere
Begriffe als Goethe — »Sardanapal« —
und auch epische Schilderungs- und Er-
zählungskunst war ihm nicht fremd —
»Don Juan«. Nichtsdestoweniger kann man
den Kern des Byronismus durchaus lyrisch
nennen, und Goethe excellierte obendrein
vor allen andern Dichter-Genien in der
reinen ausschließlichen Lyrik (Lied). Auch
die Prosa des »Werther« ist ebenso Lyrik
wie die malerische Didaktik des »Childe
Harold«. Wird aber irgendein Vernünftiger
etwa einen Meister-Roman von Scott oder
eine Vers-Epik, wie z. B. die von Byron,
selber in seinen orientalischen Epyllien an
dichterischer Bedeutung mit »Werther«
und »Childe Harold« vergleichen wollen,
obschon der epische Wert letzterer Werke
gleich Null ist und sie sich also schein-
bar in der äußeren Form vergriffen haben?
Das will besagen, dass für wirklich origi-
nale Neutöner die Einkapselungen in
»Lyrik, Epik, Dramatik« überhaupt nicht
maßgebend sein dürfen, womit schon die
ganze Paragraphen-Ästhetik durchlöchert
scheint. Auch in echte alte Epik und
Dramatik — vergleiche manches im Homer
und Nibelungenlied oder z. B. die Mond-
nacht im »Kaufmann von Venedig«, die
Waldscenen in »Wie es euch gefällt« —
flutet das Lyrische hinüber. Etwas anders
steht es mit der eigentlichen Lyrik, dem
bloßen Gedicht. Freilich fehlt es nicht an
Stimmen, die den glänzenden Lyriker eben-
bürtig neben Epiker und Dramatiker setzen.
Die Schotten meinen, ihr Burns sei in
seiner Weise kein Minderer als Shakespeare,
und ihr ästhetisch einseitig-verbohrter Car-
lyle sagt geradezu, Burns habe es weiter
gebracht als Byron. Abgesehen von der
schnöden Ungerechtigkeit in diesem
speciellen Falle, scheint uns dies eine
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starke Übertreibung. Ja, Burns war der
Shakespeare des Liedes, insofern er den
ganzen Kreis menschlicher Seelenzustände
zu umfassen strebte — natürlich gemäß
seinem begrenzten Milieu — aber eben
nur des Liedes. Es gehört viel Verblendung
dazu, derlei schon durchs räumliche
Minimum begrenzte und deshalb inhaltlich
nothwendig beschränkte Manifestationen
einer einfach-schlichten Sängernatur auf
gleiche Stufe mit den ausgedehnten, sorg-
fältig ausgeführten Gebilden der episch-
dramatischen Lebensspiegelung heben zu
wollen.*
In den alten schottischen Balladen und
im »Ossian« haben wir übrigens wieder eine
merkwürdige Verquickung des Lyrischen
mit echt epischen, ja echt dramatischen
Elementen, und wir sind, mag dies auch
ketzerisch klingen, keineswegs geneigt,
den bloßen Liedersänger Burns über, ja
auch nur neben den Macpherson-Ossian
zu stellen. Ja, wir fragen, ob die epische
Ballade — jede echte Ballade ist nur
verkürzte Epik, weshalb wir bei reinen
Lyrikern auch niemals Balladeskes finden,
denn Burns’ »Tam o’ Shanter« ist nur
eine humoristische Märchen-Romanze —
»Warum ist dein Schwert so roth, Edward,
Edward« nicht gerade soviel echte Dichter-
kraft enthalte, wie das sangbarste Lied
oder die ergreifendste Elegie von Burns?
Hiermit wäre aber dem Lyriker-Dünkel
endgiltig das Wort abgeschnitten, da er
nichts als die »reine« Lyrik, d. h. das
Stimmungsgedicht, gelten lässt. Nun ist
die »Stimmung« allerdings die Quintessenz
der poetischen Anschauung, und ohne sie
bleibt alle Kunst leer und todt. So beruht
z. B. die Wucht des Äschyleischen »Pro-
metheus« lediglich auf Stimmungszauber.
Aber wir erkannten ja schon ausdrücklich
das »Lyrische« im weitesten Sinne als
ebenbürtig, im gewissen Sinne sogar über-
legen, neben dem Epischen und Drama-
tischen an, denn alles Subjective, Philo-
sophische, Hochfliegende in Gedanke und
Gefühl speist sich aus lyrischen Grund-
lauten. Es handelt sich also hier nur
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