Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 184

O grave where is thy Victory Die Formen der Dichtkunst (Toorop, JanBleibtreu, Carl)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 184

Text

BLEIBTREU: DIE FORMEN DER DICHTKUNST.

um das landläufig unter »Lyrik« als Form
Verstandene.

Wenn ein Dichter-Ingenium wie
Heine stets, auch in politischer Satire
und in der Prosa seiner Reisebilder,
im Banne des engen, subjectivistischen
Lyrismus verharrte, so hat er gewiss
nicht aus freiem Wunsch die größeren
Kunstgattungen verschmäht — zerflossen
ihm doch seine dramatischen Versuche
unter den Händen in Lyrik — sondern
nur aus der Noth eine Tugend ge-
macht. Uhland wusste in einigen Bal-
laden etwas Classisch-Vorbildliches zu
erreichen, ohne aber die historische Bal-
lade zum Drama erweitern zu können.
Wir befinden uns vor einem eigenthüm-
lichen Dilemma, aus dem so recht die
hohle Relativität aller Kunstwerte hervor-
geht, wenn wir z. B. den größten Kunst-
lyriker Heine an einem Kleist, Grillparzer,
Hebbel, Grabbe messen. Einerseits nämlich
erscheint uns Heine der geistreichere
Künstler, der begnadetere Dichter; anderer-
seits wäre es thörichte Verkennung, wenn
wir die gewaltigen Werke jener Drama-
tiker nicht an geistigem Arbeitswerte be-
deutend höher einschätzen wollten als die
leichtbeschwingten Kinder der lyrischen
Muse. Und wir möchten recht sehr da-
gegen protestieren, wenn man, wie es oft
geschah, Burns sozusagen als den »Dichter«
und Walter Scott nur als den »Schrift-
steller« werten will. Gewiss, abstract
genommen, stammt Burns’ »Lincluden-
Abtei«, »An ein Maßliebchen«, »Bannoc-
burn« oder so manches Liebeslied aus
höheren Sphären als Scotts homerische
Erzählungsgabe und geniale historische
Charakteristik. Aber ob die geistige Lei-
stung als solche nicht mindestens eben-
bürtig sei, Ludwig XI., Cromwell, Elisa-
beth, Maria Stuart dermaßen lebendig
heraufzubeschwören, geben wir jedem Un-
befangenen zu bedenken. Vielmehr er-
scheint es uns bezeichnend, dass gerade
diejenige Schöpfung, in der Burns sein
revolutionäres Naturmenschenthum am
kräftigsten entlud, nämlich der kleine Chor-
Cyklus »Die lustigen Bettler«, sich am
meisten der Epik nähert.

Auch die Behauptung, die man wohl
gelegentlich hört, das einfache Lied er-
fülle besser seine Aufgabe als das pom-

pöseste Drama, weil es sich allgemein-
verständlicher an das Gemüth wende,
dünkt uns ein wenig stichhaltiger Trug-
schluss. Die Popularität des sangbaren
Liedes stammt aus recht banausischen
Ursachen, nämlich aus der Beigabe der
Musik. Ohne die Componisten würden
Heines Gedichte unendlich weniger bekannt
geworden sein; nun dudelt man sie zum
Clavier hin ohne besonderen Genuss am
Texte.

Über die Vorzüge des alten Epos vor
dem Drama brauchen wir uns schon
deshalb nicht mehr zu ereifern, als ja
das Vers-Epos überhaupt ausstarb und
völlig im Prosa-Roman aufgieng. Wenn
dieser für sich das Erbe der Epik in
Anspruch nimmt, so ist dies freilich eine
irrige Anmaßung. Die Gesetze der großen
Kunst, wie das Epos sie bedingt, treffen
auf Roman und Novelle nicht zu; nur
in seltenen Ausnahmefällen, z. B. in
Zolas »Germinal«, in der Dante’schen
»Hölle«, tritt hier die geschlossene Com-
position, das markige Pathos zusammen-
gedrängter dramatischer Gliederung zutage,
wie das alte Helden-Epos es bedingt. Zudem
unterscheiden sich Vers und Prosa als
Kunstmittel ungemein. Die Prosa wirkt
behaglich, klar, charakteristisch, der Vers
schwungvoll, heroisch, mehr aufs Große
als auf psychologische Einzelheiten ge-
richtet. Hier wirft sich von selbst die
akademische Frage auf, ob Vers oder
Prosa vorzuziehen seien. Der Laie hält
natürlich die Prosa für das Natürliche,
der Wissende erkennt sie als ein spätes
Product der Cultur-Entwicklung. Das
»Singen«, der rhythmische Tonfall er-
scheint bei allen Naturvölkern als erste
Kunstübung, und selbst die Griechen
kannten Prosa nur als Instrument der
Historie, Rhetorik und Wissenschaft. Als
die ersten nennenswerten Prosadichtungen
kann man unseren »Simplicissimus« oder
Bunyans »Pilgerfortschritt« betrachten,
letzteres übrigens in schwülstig-rhyth-
mischer Prosa gehalten. Erst die Stuart-
Komödie brachte Bühnen-Gesellschafts-
stücke in Prosa, jedoch einzig im Lust-
spiel; erst unsere Stürmer und Dränger
versuchten Tragisches in Prosa zu formen.
Auch hat der eigentliche Roman erst
spät seine Aufwartung gemacht, und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 184, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-08_n0184.html)