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wie Longfellows »Ljiawatha«, wie die
epischen Ergüsse deutscher Romantiker,
und schwelgten in allerlei Lyrik. Allein,
auch hier wieder sprach keine ästhetische
Ursache mit, sondern der Trieb einer vom
gewaltthätigen Realismus der Napoleon-
Epoche erschöpften, reactionär nieder-
gehaltenen und vom politischen Leben
abgesperrten Gesellschaft, sich in ein ro-
mantisches Wolken-Kuckucksheim zurück-
zuträumen.
Mit dieser Feststellung soll aber nicht
etwa der Herrschaft des Verses das Wort
geredet und der Cultus der Prosa als
Zeichen dichterischer Decadenz ausgegeben
werden. Wenn die so reiche Literatur
Frankreichs unseres Erachtens nur in
Versen Mussets, insbesondere »Rolla«,
eine große und wahrhaft dichterische
Welt-Anschauung erklomm, von Chateau-
briands schwülstiger Prosa nur noth-
dürftig angebahnt, so hat sie neuerdings
das Phänomen gelöst, eine epische Prosa
zu schaffen, deren classische Abrundung
in statuarischer Ruhe und doch voll
feinster Intimität lyrischer Stimmung die
Wirkung der gebundenen Rede erreicht.
Wir meinen die Prosa Zolas in seinen
besten Werken und zwar verschie-
denster Artung und Stimmung, heißen
sie nun »Germinal« oder »Der Traum«,
»Der Fehl des Abbé Mouret« oder »Die
Erde«. Gewisse Landschaftsbilder Zolas
stehen durchaus dem Besten gleich, was
die hohe Vers-Poesie aller Länder ge-
schaffen. Dass dieses Phänomen, diese noch
lange nicht genug gewürdigte Größe Zolas,
den man in Frankreich allen Ernstes mit
kleinen Romanciers, wie Daudet, Loti,
Bourget zu vergleichen wagt, nur durch die
halb italienische Abstammung des großen
Meisters erklärt wird, die ihm den unfran-
zösischen Zug zum allegorischen Symbolis-
mus einpflanzte, wollen wir hier nur an-
deuten. Jedenfalls aber halten wir auf das
entschiedenste fest, dass die großen Prosa-
Epiker unserer Tage, wie Zola, Dostojewski,
Turgeniew, Tolstoi, und die Prosa-Drama-
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tiker, wie Ibsen, Björnson, Strindberg an
dichterischer Fülle und Bedeutung hinter
keiner früheren Epoche zurückbleiben,
dass man sie nur mit den größten Welt-
dichtern, wie Shakespeare, Goethe, Byron,
nicht vergleichen darf. Hiermit soll aber
anderseits keineswegs gesagt sein, dass
ihre Kunstformen nun ein- für allemal
die maßgebenden wären, dass dem mo-
dernen naturalistischen Roman und Drama
und ihrer objectiven realistischen Prosa
ausschließlich die Zukunft gehöre. Das
mystische und religiöse Bedürfnis der
Menschheit wird vielmehr im XX. Jahr-
hundert wieder dem hochfliegenden Vers
oder wenigstens der Prosa-Lyrik à la
Werther zuneigen, wird auch im Theater
wieder das Große und Symbolische ver-
nehmen wollen, was sich mit dem eigent-
lichen Realismus absolut nicht verträgt.
Wir sind am Ende. Was wir darthun
wollten, war die völlige Relativität aller
literarischen Kunstbegriffe, die fortwährende
Umwertung aller Werte der Literatur. Alle
Urtheile, alle Maßstäbe sind rein subjectiv,
und es bleibt eine vollkommene Thorheit,
objective Lobpreisungen oder Verdam-
mungen dichterischer Erzeugnisse formu-
lieren zu wollen, statt ehrlich der Sache
auf den Grund zu gehen: »Mir miss-
fällt das, ich verstehe das nicht, darum
ist es schlecht und nichts wert.« Vielmehr
gibt es nur einen möglichen Maßstab
jenseits von Gut und Böse alberner Kunst-
dogmen, die sich in nichts vom Pfaffen-
thum der Kirchendogmen unterscheiden,
wie denn die abstracte »Kunst« den
letzten bevormundeten Pfaffenwahn der
Gebildeten vorstellt —: das ist die all-
gemeine
geistige Bedeutung eines
Dichters, sein großes Wollen, wohl-
gemerkt nicht bloß »künstlerisches« Hand-
werkswollen. Alles »Können« ist relativ,
denn seine Wirkung hängt nur vom ein-
seitigen Standpunkt des Beurtheilers ab:
jedes große Wollen aber, d. h. die darin
niedergelegte umfassende Geisteskraft,
trägt ihre Bedeutung in sich selbst.
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