Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 188

O grave where is thy Victory Deutsche Buddhisten (Toorop, JanThomassin, Carl von)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 188

Text

THOMASSIN: DEUTSCHE BUDDHISTEN.

seine Ansicht klarzulegen, dass »die Meta-
physik der Vedânta und die Ethik des
Buddhismus die beiden Quellen werden
können, an denen die europäische Cultur-
menschheit, nachdem sie mit dem Christen-
thum zugleich das geistige Joch des Semi-
tismus überhaupt abgeschüttelt hätte, ge-
sunden könne«. Als die wichtigsten meta-
physischen Grundlehren für die »religiöse
Regeneration« betrachtet er den »subjec-
tiven Idealismus« und »transcendentalen
Realismus« der Atma-Lehre der Vedânta-
Philosophie, wie die uralte Lehre von der
Wiedergeburt; die ethischen Lehren, die
auf letztere aufgebaut sind und im »acht-
fachen edlen Pfad« dargelegt werden,*
sollen sodann die Grundlage für eine Er-
neuerung der europäischen Ethik bilden.

Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass
Schultze zu der Erkenntnis gelangt ist,
Buddha habe die Metaphysik »nur stief-
mütterlich behandelt« und man müsse des-
halb für eine buddhistische Reform in
Europa wieder eine metaphysische Basis
in der Atma-Lehrt der Vedânta zu schaffen
suchen. — Jedoch ist es merkwürdig, dass
er trotz dieser Einsicht dem Grundprincip
der ganzen indischen Religion, Ethik und
Philosophie, dem Yoga-System, so wenig
Aufmerksamkeit zugewendet hat, jenem
System, das ihm das Verständnis der
buddhistischen Lehre und Ethik erleichtert
haben würde. Bekanntlich geht dasselbe
von der Möglichkeit der Wieder-Erkenntnis
des göttlichen Wesens im Individuum und
der Möglichkeit der Wieder-Vereinigung
mit demselben nach Aufgabe der ver-
kehrten individuellen Strebungen aus. Letz-
terer ist auch das Ziel aller ethischen
Vorschriften des Buddhismus, und es ist
thatsächlich dasselbe, Nirwana zu erreichen,
das keineswegs das Aufgehen in Nichts,
sondern das Aufgehen ins höchste Sein
bedeutet, oder in Yoga-Ekstase ins Vara-
matina
wieder zurückzukehren. Wir werden
diesbezüglich noch später einige Erörte-
rungen einzufügen haben.

Das Schultze’sche Werk ist vielfach
derart kritisiert worden, wie wenn der
Verfasser versucht hätte, die europäischen
Völker zur Annahme der buddhistischen
Religion überhaupt mit allen ihr noch an-
haftenden Traditionen und ihren dogma-
tischen Lehrsätzen zu bewegen. Er hat
wiederholt gegen eine derartige Auffassung
Protest erhoben. Am klarsten hat er sich
wohl diesbezüglich in einem Briefe an
Arthur Pfungst ausgesprochen, den
dieser in seiner Schrift mittheilt, und in
dem unter anderem folgende Äußerungen
enthalten sind:

Meine Meinung ist, dass wir uns wohl
den eigentlichen Kern der buddhistischen
Welt- und Lebens-Anschauung aneignen
können, nicht aber auch gewisse con-
crete Vorstellungen, die mit jenem
Kern von Anfang an verwachsen waren
und noch heutzutage in den buddhi-
stischen Ländern Asiens als absolut
wesentliche Theile desselben angesehen
werden Was insbesondere das
Karma anbetrifft, so fallen allerdings auch
nach unserer Anschauung die mensch-
lichen Handlungen in den allgemeinen
Causal-Zusammenhang des natürlichen
Geschehens hinein, und die Möglichkeit
ist nicht ausgeschlossen, dass Nachwirkun-
gen der eigenen Handlungen später einmal
deren Urheber so oder so treffen. Dass
aber diese Möglichkeiten sich in ihrer
Verwirklichung dergestalt den Postulaten
des moralischen Gerechtigkeitsgefühls an-
passen sollte, wie für das buddhistische Karma
nothwendig wäre, können wir nach unserer
Kenntnis der natürlichen Causal-Zusammen-
hänge doch schlechthin nicht glauben.
Bloß an die Wiedergeburt als solche und
an deren Bedingtheit durch die im ster-
benden Individuum noch fortdauernde
Lebenslust könnten wir — wenn uns damit
gedient wäre — gerne so lange glauben,
als es unserer exacten Naturwissenschaft
noch nicht gelungen ist, das bewegende
Princip des individuellen Lebensprocesses

* Sakhya Muni lehrte, dass »die Unwissenheit und das Leid« beseitigt werden könne durch
die Kenntnis der vier großen Wahrheiten:

1. Das Dasein ist Leiden (im Gegensatze zum Sein).

2. Die Ursache hierfür ist die stets erneuerte Begierde, sich zu befriedigen, ohne
jemals dies zu erreichen.

3. Deshalb ist die Zerstörung dieser Begierde nothwendig.

4. Das Mittel hierzu ist der »edle achtfache Pfad« der Selbstbeherrschung.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 188, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-08_n0188.html)