Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 191

O grave where is thy Victory Deutsche Buddhisten Die Utopie und die Utopisten (Toorop, JanThomassin, Carl vonGourmont, Remy de)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 191

Text

GOURMONT: DIE UTOPIE UND DIE UTOPISTEN.

Buddhismus die älteste Religion nennt.
Man muss aber diesbezüglich in Betracht
ziehen, dass die esoterischen Buddhisten
nicht auf Gautama Buddha zurückgehen,
sondern auf die uralte Yoga-Lehre, insofern
auch die »Yogis« Buddhas »Erleuchtete«
genannt werden. Unserer Ansicht nach wäre
es nothwendig gewesen, dass Bleibtreu hier-
über seinen Lesern eingehende Klarlegungen

geboten und die Yoga-Grundlage des theoso-
phischen Buddhismus zur Vermeidung aller
Missverständnisse ganz besonders hervor-
gehoben hätte. Dann wäre allerdings auch
die Thatsache mehr ins Licht getreten,
dass der theosophische Buddhismus in
gewissem Sinne das Gegentheil des exo-
terischen Buddhismus ist.

DIE UTOPIE UND DIE UTOPISTEN.
BRIEF AUS PARIS.
Von REMY DE GOURMONT (Paris).

Die Gehirne stecken heutzutage voll
Utopien. Jeder oder beinahe jeder Mensch
trachtet, unbekümmert um sein eigenes
Leben, darnach, seinen Brüdern ein all-
gemeines Glück zu bescheren. In ge-
wissen Kreisen liefe man fast Gefahr,
gesteinigt zu werden, wollte man diesen
Träumern Goethes Wort ins Gedächtnis
rufen: »Nichts ist leichter, als ein allge-
meines Glück auf Erden zu schaffen. Sei
ein jeder bestrebt, sich selbst glücklich
zu machen, und die Aufgabe ist gelöst.«
Anders jedoch fassen die Utopisten es auf.
An einem heftigen, fast zum Fanatismus
gesteigerten Christianismus krankend, ver-
nachlässigen sie ihr eigenes Ich, um nur
an die anderen zu denken. Des Wortes
des Evangeliums vergessend: »Die richtige
Barmherzigkeit fängt bei sich selbst an,«
überlassen sie ihren eigenen Kahn dem
Spiel der Wellen und verwenden ihre
Zeit dazu, ihren Mitmenschen ihre Rath-
schläge aufzudrängen. Ja, sie wären im
Nothfalle bereit, mit der Menschheit zu
verfahren, wie die Menschen mit den
Schafen und den Rindern verfahren,
sie würden ihr Glück schaffen, ohne sie
auch nur zu fragen — nach dem System
der Zähmung.

Es hat mir stets geschienen, als be-
deute für gewisse Socialisten und gewisse
Anarchisten, vor allem für diejenigen, die
ihre Brüderlichkeitsgefühle am lautesten
proclamieren, der Mensch nichts als ein

zu zähmendes Thier, als eine wilde Bestie,
die noch nichts davon weiß, dass der
Inbegriff des Glückes in dem warmen
Stall oder der fetten Wiese besteht. Den
Socialisten, sehr praktisch und gefräßig,
kümmert vor allem das Futter; der poe-
tischer angelegte Anarchist vereinigt das
Vergnügen des Essens mit dem Vergnügen,
in Freiheit zu essen. Beide aber unter-
drücken in gleicher Weise die Freiheit,
der eine bewusst, der andere unbewusst.
Das ist es, was mir die Lectüre der
utopistischen Literatur so peinlich macht;
und überhaupt ist mir der Gedanke, mich
nackt auf einer Wiese unter den Blumen
und wohl auch unter Frauen ergehen zu
sollen, ebensowenig erbaulich wie der Ge-
danke, in den Schweinestall eingesperrt
zu werden, dessen Geschichte Carlyle
erzählt hat.

Ein selbstgewählter Schmerz ist besser
als ein aufgedrungenes Vergnügen, das
vergessen die Utopisten. Und noch einen
anderen Punkt von weit größerer Bedeu-
tung vergessen sie.

Sämmtliche Utopisten gehen von dem
Grundsatze aus, dass die Gesellschaft eine,
sozusagen außerhalb der Menschen und
gegen die Menschen geschaffene Institution
sei. So eingerichtet, hat diese Institution
sich stets als zum Schütze der Mensch-
heit gegen die natürlichen und socialen
Unbilden unbrauchbar erwiesen; um sie
vortrefflich zu machen, bedürfte es zahl-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 191, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-08_n0191.html)