Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 192

O grave where is thy Victory Die Utopie und die Utopisten (Toorop, JanGourmont, Remy de)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 192

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GOURMONT: DIE UTOPIE UND DIE UTOPISTEN.

reicher Änderungen. Man lasse die Uto-
pisten sich ans Werk begeben, und die
Menschheit wird sich gar bald in der
Sphäre des ewigen Glaubens wiederfinden.
Was sie vergessen, ist die Thatsache,
dass die menschlichen Gesellschaften das
unvermeidliche, das nothwendige Product
der menschlichen Natur sind. Der Mensch
einer gewissen Rasse schüttelt seine Gesell-
schaft ab, wie die Auster ihre Schale
abschüttelt; er besitzt ebensowenig die
Freiheit, sich eine neue zu schaffen, als
er die Freiheit besitzt, sich überhaupt
eine solche zu schaffen. Nur dass der
Mensch erfinderisch ist und daher seine
Schale je nach Klima und Zeit mit ver-
schiedenen Farben zu bemalen vermag,
das allein ist ihm erlaubt; ihre Natur
kann er ebensowenig ändern als ihre Form.

Um den Vergleich mit einem Thier
höherer Gattung, als die Auster ist, an-
zustellen, nehme man den Biber, die Biene
oder die Ameise; man findet sich dann
animalen Gesellschaften gegenüber, die
sich von den menschlichen Gesellschaften
einzig durch die Vielgestaltigkeit unter-
scheiden. Ja, gewisse Negerrassen zeigen
kaum eine größere Mannigfaltigkeit als die
Bienenstöcke oder die Ameisenhaufen.
Häuser bauen, Vorräthe darin aufstapeln,
essen, schlafen und eine Nachkommen-
schaft zeugen: das ist die Bestimmung
der Menschen wie die der Ameisen. Der
Lebenszweck einer Ameise ist der gleiche,
wie das Ziel des menschlichen Daseins;
Kinder zeugen und sterben und die Gattung
fortpflanzen — das gilt es, und das allein.
Gibt es einen anderen Zweck — wir
kennen ihn nicht und werden ihn nie
kennen lernen: unsere einzige Pflicht ist,
unserem Instinct zu gehorchen, wie alle
in Freiheit lebenden Thiere es thun.

Die einzige Utopie, von der zu träu-
men erlaubt ist, wäre denn die Utopie
der Freiheit, des Gutes, das die Quelle
aller Güter ist.

Frei sein, aber wirklich und ganz frei,
wie der Fisch im Wasser — das ist alles.
Doch diese Freiheit — die Freiheit des
Fisches im Wasser — die den Hechten
behagt, sie ängstigt die armen Gründlinge.
In der Furcht vor dem Gefressenwerden

ist der Gründling also Utopist. Ihn ver-
langt nach noch weniger, immer weniger
Freiheit, nach Verschanzungen, nach Git-
tern, nach Schlupfwinkeln, in die der
Rachen des Hechtes nicht zu dringen ver-
mag. Der Traum des Gründlings ist das
Goldfischglas, ein kleines, heiteres Gefäng-
nis, in dem man gefüttert wird, ohne
arbeiten zu müssen. Ach! dieses Gefäß,
es ist auch der Traum der degenerierten
Menschheit!

Diese Betrachtungen flößte mir die
Lectüre eines seltsamen, kürzlich erschie-
nenen Romans* ein, der zu den besseren
Erzeugnissen der utopistischen Literatur
zählt. Möglich, dass der Verfasser trotz
seiner Ausfälle gegen die Reformatoren,
gegen die Wohlthäter des Volkes, selbst
ein wenig Utopist ist; da jedoch das
glückliche Reich, das er am Schlusse seines
Buches zeigt, plötzlich wie Pompeji und
Herculanum unter einem Aschenregen ver-
schwindet, darf man seinen Menschlich-
keitstraum nicht allzu streng nehmen. Er
selbst glaubt daran nicht anders als an
ein Feenmärchen, sein Zweck war kein
anderer, als uns zu unterhalten und vor
der Schluss-Katastrophe unsere Phantasie
mit lachenden Bildern zu ergötzen. In
»Pantalonie« sieht man zwei Nachbar-
reiche, die einander beinahe fremd sind,
durch Wüsten und unübersteigbare Berge
getrennt. In dem einen, Négocie, ist es der
Despotismus der rohen Kraft, des Goldes
und des Verbrechens, kurz alles Dessen,
was im Geiste des Verfassers die europä-
ische Gesellschaft repräsentieren mag, die
Gesellschaft, in der zu leben wir die Ehre
haben. Ich für meine Person kann sie
nicht gar so entsetzlich finden. Allerdings,
das Gold richtet Unheil an, doch es wirkt
auch Gutes; das Verbrechen wird genügend,
wenngleich oft ein wenig von ungefähr,
verfolgt; und die Kraft ist nicht so roh,
dass die Schwachen nicht ihre besonderen
und oft sogar übermäßigen Vorrechte ge-
nießen könnten. Das andere Reich, Port-
Lazuli, ist das Land der Indolenz, der
Liebe, der Sanftmuth; ein ewiger Frühling
zeitigt dort liebliche Sitten. Dieses kleine

* „Pantalonie“ von Camille de Saint-Croix. Paris, Verlag der Revue Blanche.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 192, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-08_n0192.html)