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ideale Reich nun wird nacheinander die
Beute zweier Utopisten. Da wir uns in
einem Märchenreich befinden, bedienen
diese beiden Utopisten sich bei der Ver-
wirklichung ihrer Träume übernatürlicher
Mittel. Der erste repräsentiert die sociali-
stische Utopie, die eiserne Arbeit, die
Trennung der Geschlechter, die Beschlag-
nahme der Güter durch den Staat. Es
gelingt ihm nicht, dem Lande das Glück
zu schenken; eine Intrigue, vereint mit
einer revolutionären Bewegung, macht den
Bestrebungen dieses ersten Zauberers ein
Ende, und der zweite beginnt nach wechsel-
vollen Schicksalen seine Erfahrungen.
Dieser ist eine Art Anarchist. Er organi-
siert den Staat dergestalt, dass alle noth-
wendige Arbeit in geräumigen Werkstätten
von der Jugend des Landes geleistet wird.
Nach Ablauf dieser Arbeitsperiode, von
seinem einundzwanzigsten Jahre an, wird
jeder Einwohner von Port-Lazuli von seinen
jüngeren Brüdern ernährt und erhalten,
er hat nichts mehr zu thun, als in unbe-
grenzter Freiheit nach seinem Belieben
zu leben. Ich will hier einige Stellen des
Romans anführen:
»Binnen weniger als einem Monat hat
sich dem Lande eine in der Geschichte
unerhörte Ära des Genusses eröffnet. Von
einundzwanzig Jahren an nichts mehr zu
thun haben! Nicht mehr sein Brot ver-
dienen, nicht mehr sein Leben vertheidigen
müssen! Von der Großjährigkeit ange-
fangen hört für jeden Einwohner von
Port-Lazuli das ausschließlich materielle
und arbeitsame Leben auf, das Leben der
Anstrengung und Mühen, das Leben der
physischen Sinne Kräftig, gewandt,
in allen Proben gestählt, aller falschen
Freuden und Würden, allen eitlen Prunkes
überdrüssig, werden Jünglinge und Jung-
frauen sich wahrhaft und vollkommen als
Mann und Weib fühlen. — Wenn man
sie aber für eine intellectuelle Zukunft
vorbereitet hat, wenn sie von ihrem ein-
undzwanzigten Lebensjahre an nichts
mehr zu lernen haben, was bleibt ihnen
dann auf Erden, da doch das Studium
das einzige Element des Intellects bildet?
Nichts mehr zu lernen? Welcher Irrthum!
Arm an Ideen, unwissend, ohne ästhetische,
ohne metaphysische Kenntnisse, mit noch
unverbrauchtem Denken und Fühlen —
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ihr seht, was ihnen kennen zu lernen noch
bleibt Das unendliche Feld der un-
gekannten Genüsse, das sich vor ihnen
öffnet, ist das der Einführung in die Künste,
in die Poesie, in die Liebe, in die subtilsten
Wissenschaften In der seligen Frei-
heit ihrer Gedanken werden sie den Weg
nach der unsterblichen Verführungskraft
der reinen natürlichen und göttlichen Pro-
bleme wandeln Und so wird anstatt
eines Männergeschlechtes von Kriegern,
Financiers, Kaufleuten, Beamten, von
Arbeitern, ausgebeuteten Proletariern und
armen Handwerkern, anstatt einer weib-
lichen Rasse von Koketten, Courtisanen,
Prostituierten, von bleichsüchtigen Arbei-
terinnen, schwindsüchtigen Lehrerinnen
und Mädchen für alles ein geistvolles
Volk von Magiern und Feen entstehen, ein
Volk von Dichtern und Musen, von Schön-
heitspriestern und Vestalinnen, von Er-
findern und Sängerinnen, Philosophen und
Egerien, von Liebenden und Geliebten «
Man sieht wenigstens, Herr von Saint-
Croix träumt nichts Geringes, und man
wird in dieser idealen Gesellschaft aller-
liebste »five o’clock teas« geben können.
Man wird musicieren und declamieren —
und Verse und Musik, Liebe und Philo-
sophie, alles wird von köstlicher Mittel-
mäßigkeit sein!
Diese Utopie gemahnt an diejenige
Fenelons. Es ist die Insel der Freude,
wo die Erde aus Chocolade ist und die
Bäche aus Syrup. Doch diese Welt von
Schönheitspriestern und Musen wird recht-
zeitig von einem heilsamen Aschenregen
erstickt. Sprechen wir nicht weiter darüber.
Es hat etwas Unbehagliches, eine Welt
zu betrachten, der jedes Streben, jeder
Schmerz, jede Größe fehlt; und wenn der
glückliche Mensch dieser Chimäre gleicht,
dann ist er entschieden ein ebenso häss-
liches Thier wie die Hydra und die
Drachen. Lassen wir das Paradies nicht
zur Erde niedersteigen, sonst wird die
Erde unbewohnbar.
Camille de Saint-Croix, der dem
Kritiker nur zu selten Gelegenheit gibt,
seinen Namen zu nennen, ist ein guter
Schriftsteller, wiewohl er sich leider am
Journalismus ein wenig die Feder ver-
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