Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 195

O grave where is thy Victory Die Entstehung des socialen Problems (Toorop, JanFischer, Arnold)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 195

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FISCHER: DIE ENTSTEHUNG DES SOCIALEN PROBLEMS.

Innerhalb dieser Grenzen entwickelt sich
die organische Natur unter dem Einflusse
der fortschreitenden Wärme-Abnahme der
Erde.

Nun erklärt Schmitt: Diese Theorie
arbeitet mit einem negativen Factor,
einem »Mangel«, einer »Noth«. Es fehlt
im besonderen meinem Buche das »posi-
tive Formprincip«, aus welchem der Reich-
thum der Organisation und des Geistes
hervorquillt. Abschwächung von Kräften,
Schwinden von Fähigkeit erklärt in keiner
Weise das Hervorgehen neuer, höherer,
reicherer Formen des Lebens und des In-
tellects. Die neue, höhere Naturkraft, die
immer dort hervorbricht, wo die Noth am
größten ist, ist ebensowenig ein positives
wissenschaftliches Erklärungsprincip, wie
der im gleichen Falle eingreifende liebe
Gott.

Es ist in der That der wesentlichste
Punkt, den Schmitt hier berührt. Wie ver-
hält es sich somit mit dem positiven Form-
princip? Die Antwort auf diese Frage muss
zunächst feststellen, dass sie für unsere
Zeit
zu allgemein gestellt ist, die Frage
ist vorzeitig. Es kann keinem Zweifel unter-
liegen, dass die Zukunft das einheitliche
Entwicklungsgesetz der organischen Natur
erkennen und in voller Klarheit feststellen
wird. Diese Zukunft liegt aber nicht nur
fern, der Weg zu ihr führt nur durch
eine Stufenreihe von Erkenntnissen, die
wir vorher durchschreiten müssen. Ist aber
ein einheitliches Erkennen, wie es Schmitt
wünscht, in unserer Zeit nicht möglich,
so müssen wir uns mit einer Reihe von
Theil-Erkenntnissen begnügen. Es kann
keinem Zweifel unterliegen, dass die ein-
heitliche Erkenntnis des positiven Form-
princips der organischen Natur nur eine
naturwissenschaftliche sein kann. Die
Lehre vom Leben, die Physiologie, ist längst
darüber klar, dass die Erklärung des Lebens
aus chemischen Processen dem gegen-
wärtigen Stand des Wissens so compliciert
erscheint, dass die Lösung dieser Frage
noch sehr lange auf sich warten lassen
muss. Bis dahin ist zweifellos neben der
naturwissenschaftlichen eine sociologische
Erklärung berechtigt. Der Vorwurf des
Verfassers würde sich demnach thatsächlich
hinsichtlich meines Buches gegen das
Fehlen des Formprincips im menschlichen

Gemeinleben richten. Auf diesen Einwurf
habe ich nun Folgendes zu erwidern:

Es ist richtig, dass ich die Entwicklung
des organischen Lebens im allgemeinen,
demnach auch des menschlichen Gemein-
lebens, unter dem Einflusse der Intensitäts-
Abnahme des Lebensprocesses betrachte.
Diese Abnahme erscheint mir als Be-
dingung der Entwicklung, wie sie that-
sächlich in die Erscheinung tritt. Wie
sich erst unter dem Einflusse der Ab-
kühlung der Erde in ihrem feuerflüssigen
Zustande organisches Leben entwickeln
kann, so ist die Abnahme des äußerst
intensiven Lebensvorganges in den zuerst
auftretenden organischen Bildungen Be-
dingung für das Fortschreiten zu höheren
Arten. Das wäre das negative Princip.
Das positive habe ich in meinem Buche
so sehr in den Vordergrund gestellt und
aus ihm die ganze Entwicklung in einem
Grade abzuleiten gesucht, dass ich meine
Verwunderung nicht unterdrücken kann,
wie Schmitt dies übersehen konnte. Ich
beschränkte mich hiebei allerdings auf
das menschliche Gemeinleben. Welches
ist nun das positive Formprincip im
menschlichen Gemeinleben? Die Antwort
lautet: Es ist die unter dem Ein-
flusse der Intensitäts-Abnahme
des Lebensvorganges erfolgende
Bewusstseins-Erhöhung
. Wonach
ich strebte, war die Erforschung des
Gesetzes der Bewusstseins-Entwicklung in
der organischen Natur, demnach im Thier-
reich wie beim Menschen, im Individual-
wie im Gemeinleben, kurz, ich strebte
nach dem einen Gesetze der Bewusst-
seins-Entwicklung. Dies ist das posi-
tive Formprincip des Gemein-
lebens
. Der größte Theil meines Buches
ist dem Nachweis darüber gewidmet, dass
der Eintritt in eine neue Bewusstseins-
stufe (im Individual- wie im Gemein-
leben) eine ganze Welt von seelischen
Kräften entbindet. Ich habe die Dar-
stellung der einzelnen, eine bestimmte
Entwicklungsstufe des Gemeinbewusstseins
verkörpernden Epochen der europäischen
Cultur über alle großen Culturzweige aus-
gedehnt, um nachzuweisen, wie sich eine
neue Bewusstseinsstufe auf den verschie-
denen Gebieten des Culturlebens äußert.
Die Intensitäts-Abnahme des Lebensvor-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 195, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-08_n0195.html)