Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 196

O grave where is thy Victory Die Entstehung des socialen Problems Über Thiercultus vom völkerpsychologischen Standpunkte (Toorop, JanFischer, ArnoldAchelis, Thomas)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 196

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ACHELIS: ÜBER THIERCULTUS VOM VÖLKERPSYCHOLOGISCHEN STANDPUNKTE.

ganges bringt demnach bis zu einer be-
stimmten Grenze, die allem organischen
Leben innewohnt, stets neue seelische
Kräfte hervor. Dies erklärt sich leicht aus
der erwähnten Thatsache, dass die ur-
sprüngliche Intensität eine unermesslich
große war. Ebenso wie organisches Leben
nicht gedeihen kann, wenn die Wärme
eine zu große ist, können auch höhere
Arten der organischen Natur
erst auftreten
, wenn sich die ur-
sprüngliche hohe Intensität des
Lebensvorganges wesentlich ver-
mindert hat
.

Die Intensitäts-Abnahme des Lebens-
vorganges und ihre Folge-Erscheinung, die
Bewusstseins-Entwicklung, vollzieht sich als
gesetzlicher, demnach nie ruhender Process
in langen Zeiträumen und sehr allmählich
auf dem Wege kleinster Größen, bezw.
kleinster Entwicklungsstufen. Von dem
Auftreten einer neuen, höheren Naturkraft,

»wo die Noth am größten ist«, wie
Schmitt in seinem Einwurf meint, kann
da keine Rede sein. Die Entwicklung ist
eine stetige, was das Auftreten von Krisen
in keiner Weise ausschließt.

Unbewusst erscheint Herrn Schmitt
der Übergang von einer Intensitätsstufe
der Seelenkraft zu einer anderen, von einer
Bewusstseinsstufe zu der nächsthöheren
als ein Schwinden von Kräften an
sich
. Das ist keineswegs der Fall. An
Stelle einer abnehmenden tritt eine neue
Kraft als die herrschende des Seelenlebens.
Ein völliges Absterben von Kräften findet
nur im Greisenalter statt.

Die Frage nach dem positiven Form-
princip der organischen Natur an sich,
nach der Kraft, aus welcher die Fülle der
Arten hervorgeht, lag außerhalb meiner
Aufgabe, liegt außerhalb der Sociologie
und Social-Psychologie überhaupt.

ÜBER THIERCULTUS VOM VÖLKERPSYCHOLOGISCHEN
STANDPUNKTE.
Von THOMAS ACHELIS (Bremen).

Um die hervorragende Bedeutung zu
verstehen, welche die Verehrung der
Thiere auf den niederen Stufen der reli-
giösen Entwicklung gespielt hat — ein-
zelne Überbleibsel haben sich noch weit
hinein in einer höheren Gesittung er-
halten — bedarf es, wie in so manchen
ethnologischen Betrachtungen, der völligen
Entäußerung von unseren landläufigen
culturhistorischen Vorurtheilen und Vor-
aussetzungen. Für unser Empfinden ist
eigentlich noch die wohlfeile Gering-
schätzung maßgebend, mit welcher im
vorigen Jahrhundert Christian Wolff alle
derartigen Erörterungen betrachtete, indem
er sagte: Die Frage, ob die Thiere eine

Seele haben oder nicht, ist von keinem
sonderlichen Nutzen, und daher wäre es
eine große Thorheit, wenn man darüber
einen Streit anfangen wollte; mir zu Ge-
fallen mag es Einer behaupten oder nicht,
ich werde einen Jeden bei seinem Ge-
danken lassen. Wo irgendwelche unan-
genehme Probleme diese behagliche Ruhe
stören, da wird an den allmächtigen In-
stinet appelliert, und alles ist in schönster
Ordnung; es bleibt bei der alten Ordnung
der Dinge, Menschen und Thiere sind
durch eine gähnende, unüberschreitbare
Kluft getrennt.* Das ist aber bei den
Naturvölkern durchaus nicht der Fall;
schon die niederen Schichten der civili-

* Dass in naturwissenschaftlichen, unter einseitigem darwinistischen Druck stehenden
Kreisen umgekehrt das Bestreben herrscht, diesen Unterschied möglichst zu verwischen und
in einer sehr gefährlichen Psychologie die Thiere völlig nach menschlichem Modell zu be-
urtheilen (vgl. Wundt: Essays) verschlägt vorläufig gegen den Durchschnittsstandpunkt nichts.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 196, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-08_n0196.html)