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sierten Gesellschaft weichen manchmal in
ihrer Stellung zur Thierwelt nicht uner-
heblich von jenem Schema ab. Für sie
sind die Thiere, da auch sie mit einer
Seele begabt sind — im strengsten Sinne
des Wortes kennt der Naturmensch nichts
Unorganisches und Lebloses — ebenso-
gut Personen wie die Menschen, mit
sinnlichen Wahrnehmungen und geistigen
Kräften ausgestattet, wobei auch die
Sprache* nicht fehlt, nur dass freilich
nicht ein gewöhnlicher Sterblicher, sondern
lediglich ein Medicinmann dieselbe ver-
steht. Wir müssen uns, bemerkt ein vor-
trefflicher Ethnograph und Reisender, die
Grenzen zwischen Mensch und Thier
vollständig wegdenken. Ein beliebiges
Thier kann klüger oder dümmer, stärker oder
schwächer sein als der Indianer, es kann
ganz andere Lebensgewohnheiten haben,
allein es ist in seinen Augen eine Person,
genau so wie er selbst; die Thiere sind
wie die Menschen zu Familien und Stäm-
men vereinigt, sie haben verschiedene
Sprachen wie die menschlichen Stämme,
allein Mensch, Jaguar, Reh, Vogel, Fisch,
es sind alles nur Personen verschiedenen
Aussehens und verschiedener Eigenschaften.
Man braucht nur ein Medicinmann zu sein,
um sich von einer Person in die andere
verwandeln zu können und alle Sprachen
zu verstehen, die im Wald, in der Luft
oder im Wasser gesprochen werden. Der
tiefere Grund für diese Anschauung liegt
darin, dass es noch keine ethische Mensch-
lichkeit gibt; es gibt Schlechtsein und
Gutsein nur in dem groben Sinne, dass
man anderen Unangenehmes oder Ange-
nehmes zufügt, aber die sittliche Er-
kenntnis und das ideale, weder durch
Aussicht auf Lohn, noch durch Furcht
vor Strafe geleitete Wollen fehlt ganz
und gar. Wie sollte da eine unüber-
steigliche Kluft zwischen Mensch und
Thier angenommen werden? Die äußer-
liche Betrachtung der Lebensgewohnheiten,
auf die sich der Indianer beschränkt, kann
dem Menschen höchstens die Stellung des
primus inter pares zuweisen. Es fehlt dem
Indianer ferner unsere Abgrenzung der
Arten gegeneinander. (K. v. d. Steinen:
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Unter den Naturvölkern Central-Brasiliens;
vgl. auch meine Moderne Völkerkunde,
Stuttgart, 1896.)
Versetzen wir uns in die Principien
einer primitiven Psychologie, dann kann
es uns nicht Wunder nehmen, wenn uns
berichtet wird, dass die Wilden mit ihren
Pferden sprechen, oder dass die Indianer
den Bären um Verzeihung bitten, wenn
sie sich anschicken, ihn zu jagen, oder
der Klapperschlange, die als besonders
heiliges Thier gilt, opfern und ihr eine
Prise Tabak auf den Kopf streuen (vgl.
Tylor: Anfänge der Cultur, I, 460 ff). Aber
es kann auch nicht befremden, wenn die
Thiere als Incarnationen der Seelen
Abgeschiedener aufgefasst werden. Die
Ahnenverehrung, dieser uralte, durch Rück-
sichten der Pietät und durch sociale
Momente gleich sehr bedingte Bestand-
theil primitiver Religion, hat auf diesem
üppigen Nährboden weiter fortgewuchert.
Mächtige Häuptlinge leben und wirken
nach ihrem körperlichen Tode in Thier-
gestalt fort. Auch hier ist die psycho-
logische Gedankenverbindung, die zu dieser
Idee geführt hat, sehr klar und unver-
kennbar; denn wie an vielen Thieren dem
Naturmenschen die geheimnisvolle Schnel-
ligkeit und die unwiderstehliche Kraft im-
ponierte, so musste ihn die gleiche scheue
Ehrfurcht veranlassen, durch entsprechende
Verehrung den Geist des Verstorbenen sich
geneigt zu erhalten. Es ist auch beachtens-
wert, dass sich dieser Cultus ganz besonders
auf die großen, gefährlichen Thiere be-
zieht, deren Schädigungen man wohl in
rationalistischer Berechnung zuvorkommen
wollte. Freilich, auf einer höheren Stufe
religiöser Entwicklung schwindet diese
Nützlichkeitsmaxime und macht einem
fast speculativen Gedanken Platz. Hier
wird eine Thiergattung als der Sitz des
Ahnherrn, der Stammesgottheit betrachtet
— denn beides geht unmerklich ineinander
über — und ganze Stämme bezeichnen
sich nach diesem Wappenthiere, das so-
mit zugleich eine sociale Bedeutung besitzt,
als Angehörige einer Geschlechtsgenossen-
schaft. Dies ist der Sinn des so weit ver-
breiteten, in Afrika, Australien und Amerika
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