Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 198

O grave where is thy Victory Über Thiercultus vom völkerpsychologischen Standpunkte (Toorop, JanAchelis, Thomas)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 198

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ACHELIS: ÜBER THIERCULTUS VOM VÖLKERPSYCHOLOGISCHEN STANDPUNKTE.

beobachteten Totemismus.* Der mythi-
sche Stammvater wird in irgendeiner Thier-
gestalt, in der seine Seele ihren Sitz auf-
geschlagen hat, verehrt, so dass auch
häufig das Fleisch dieses Thieres nicht
gegessen werden darf, oder doch wenigstens
sühnende Ceremonien vorhergehen müssen.
Durch diesen Glauben an eine gemeinsame
Abstammung von einem solchen Stamm-
vater wird die Unerschütterlichkeit des
solidarischen Verbandes, die durch die
Blutsverwandtschaft verbürgt ist, höchst
drastisch veranschaulicht. Bei manchen
Völkern (Indianern, Malayen und Poly-
nesiern) findet sich auch der umgekehrte
Glaube, der jenen Zusammenhang noch
stärker zum Ausdruck bringt, dass die
Todten sich in das entsprechende Totem-
Thier verwandeln und dadurch mit dem
mythischen Ahnherrn vereinigen. Dass
hierbei häufige Verwandlungen mit unter-
laufen, die namentlich für die Entwicklung
des Märchens** von hervorragender Be-
deutung sind, ist leicht begreiflich, ebenso
wie der andere Umstand, dass wir hier
auf die ersten Elemente der später so
philosophisch verfeinerten Lehre von der
Seelenwanderung stoßen (vgl. Tylor:
Anfänge der Cultur). Während sich
aber im Totemismus rechtlich-reli-
giöse Motive kreuzen und während es
sich dort häufig nur um den besonderen
Schutzgeist eines Einzelnen oder eines
Stammes handelt, zeigt die Verehrung
einer Gottheit in symbolischen Thier-
formen einen rein animistisch-religiösen
Charakter, der manchmal eine tiefe philo-
sophische Weltauffassung verräth. Sehr
deutlich ist dieser bislang noch vielfach
verkannte Übergang an der egyptischen
Thiervergötterung zu ersehen, die von
den Tagen der griechischen Weisen bis
auf unsere Gegenwart so häufig missver-
standen wird. Auch hier treffen wir an-
fänglich auf die universelle fetischartige
Pflege und Schonung von Thierarten, die
sogar in den einzelnen Gauen ungemein

verschieden war, so dass z. B. der eine
»Nomos« (Bezirk) das der benachbarten
Landschaft heilige Thier verzehrte (vgl.
A. Wiedemann: Religion der alten
Egypter, Münster 1890). Geradeso wie
Bastian z. B. eine höchst drastische Scene
beschreibt, wie die Neger ihre Fetische
oft schon im voraus unbarmherzig
prügeln, um sie recht gefügig zu machen
(Bastian San Salvador, Bremen 1859),
so scheute man sich auch hier nicht, ge-
legentlich zu solchen brutalen Mitteln
seine Zuflucht zu nehmen, die übrigens in
manchen abgelegenen Gebirgsdörfern von
Tirol und Baiern bei widerspenstigen und
unwirksamen Heiligenbildern jetzt noch
angewendet werden. Darüber hinaus er-
weiterte nun die speculative Priesterschaft
den Mythus zu einer großartigen, halb
pantheistischen Auffassung; der Stier war
der leibliche Vertreter des Osiris, der in
stets neuer Wandlung sich in ihm er-
neuerte, gleichwie z. B. Buddha in den
Dalai-Lama in Lhassa. Genau derselbe
Vorgang lässt sich bei den Hindus ver-
folgen, wo die heutigen Brahmanen in
der heiligen Kuh die unmittelbare Ver-
körperung der göttlichen Kraft, die eben
deshalb unzerstörbar ist und stets neue
Incarnationen sucht, verehren. Man ver-
gleiche damit etwa den großen Hasen***
(den Michabo) der Algonkins in Nord-
amerika, der ihnen als Weltschöpfer, als
Erfinder der Medicin und aller Künste
gilt, die zum Besitze höherer Gesittung
führen (Brinton: The Myths of the
New World, Philadelphia 1896, und
American Hero-Myths, Philadelphia,
1882). Ebenso erhob sich der Gott der
Azteken Quetzalcoatl oder Huitzilopochtli,
der in Gestalt eines Kolibri oder einer
Schlange verehrt wurde, weit über diesen
fetischhaften Zusammenhang in die Sphäre
eines bloßen Symbols der göttlichen Kraft
hinauf; auch er war ein Gott des Lichtes,
der mit seinem Vater Tezcatlipoca, dem
Geist der Dunkelheit und Finsternis, sieg-

* Vgl. das Detail bei Post, Grundriss der ethnolog. Jurisprudenz, wo auch die rechtlichen
Consequenzen (Eigenthumsverhältnisse, Blutrache u. s. w.) besprochen sind.

** Vgl. J. Kohler: Ursprung der Melusinen-Sage. Leipzig, 1895.

*** Der Gott wird auch als Kaninchen verehrt, was Brinton aus einer Verwechslung des
Wortes wabos (Kaninchen) mit waban (Tageslicht) erklärt, denn Michabo ist der Bringer des
Lichtes und in dieser Bedeutung concentriert sich die amerikanische Gottes-Idee. (Vgl. American
Hero-Myths.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 198, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-08_n0198.html)