Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 200

O grave where is thy Victory Über Thiercultus vom völkerpsychologischen Standpunkte (Toorop, JanAchelis, Thomas)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 200

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ACHELIS: ÜBER THIERCULTUS VOM VÖLKERPSYCHOLOGISCHEN STANDPUNKTE.

geographischen Principien; für den ger-
manischen und slavischen Wolf setzt der
Afrikaner die Hyäne oder den Leopard ein.

Auf einer höheren, speculativen Ent-
wicklungsstufe stellt sich unmerklich eine
Verschiebung zu Gunsten des Menschen
ein, so dass die Incarnation in einem
Thierkörper direct als Strafe für etwaige
im Diesseits begangene Sünden betrachtet
wird, oder — wo durch eine herrsch-
süchtige Priesterkaste die Schranken
zwischen den einzelnen Ständen so un-
übersteiglich gezogen waren, wie in Indien
durch die Brahmanen — dass ein Mensch
niederer Kaste eben nur in einem Thier
wiedergeboren werden konnte, während
umgekehrt die Seele des Frommen in
immer wiederholten Wiedergeburten sich
zu der Höhe göttlicher Natur und Voll-
kommenheit aufschwingt (vgl. Lippert:
Culturgeschichte).

Nach diesen allgemeinen psychologi-
schen Erörterungen würde es unsere Auf-
gabe sein, diese Grundlinien der Theorie
durch concrete Erscheinungen zu veran-
schaulichen. Freilich wäre es ein hoffnungs-
loses Unternehmen, die Fülle des ethnologi-
schen Materials irgendwie erschöpfen zu
wollen, es kann sich nur um besonders charak-
teristische Thiere handeln, die für große
Völkergruppen auf bestimmten mytholo-
gisch-religiösen Entwicklungsstufen typische
Bedeutung erlangt haben. Das gilt vor allem
von der Schlange, vom Stier und vom
Adler. Leider verbietet uns aber der be-
grenzte Raum, der uns hier zur Verfügung
steht, jedes eingehende Detail. Von den
anderen Thieren, wie von dem im Budd-
hismus so gefeierten Elephanten, den
Kranichen und Hasen der Algonkins,
dem Hunde der Perser u. a. müssen wir
hier umsomehr absehen. Dagegen wollen
wir einen bislang häufig unterschätzten
Punkt hier kurz berühren, nämlich die
im Märchen und in der Thierfabel
hervortretende Bedeutung des Thier-
cultus.

Auf Grund beschränkter Erfahrungen
— das classische Alterthum und manche

Stoffe des Mittelalters waren die leitenden
Kriterien — hat man in der Fabel un-
berechtigterweise immer einen direct
moralischen Wert suchen wollen, eine
lehrhafte Tendenz, dem sie ihren Ursprung
zu verdanken hatte, während die Völker-
kunde unwiderleglich nachgewiesen hat,
dass der eigentlich nährende Untergrund
dieser so phantastischen Welt in der
früheren, uns Culturmenschen völlig ent-
fremdeten Vertrautheit des Menschen mit
den Thieren zu erkennen ist. Das Er-
staunen, das seinerzeit Max Müller in
Oxford äußerte, als er bei den Zulus auf
genau dieselben Erzählungen stieß, die
wir aus unseren Märchen in reicher
Fülle kennen, ist in der That sehr be-
zeichnend. Hier war nach dem Ausspruche
der berufensten Beurtheiler (so des Mis-
sionärs und Sprachenforschers Bleek) jede
äußere Übertragung ausgeschlossen, und
dennoch zeigten sich mit leichten localen Än-
derungen, wie sie durch den anderen Schau-
platz geboten waren, derselbe Typus, die-
selben Grundzüge der Behandlung —
abermals ein Zeugnis für die social-
psychische Anlage des Genus Homo
sapiens, dessen Denkvermögen sich, wie
schon Peschel mit Recht bemerkt hat,
bis auf seine seltsamsten Sprünge und
Verirrungen gleicht. Erst später, als das
naive Bewusstsein, die unbefangene ani-
mistische Auffassung der Welt einer kriti-
schen Betrachtung gewichen war, treffen
wir auf die bekannten Parabeln, die sich in
dem Satz concentrieren: Quid fabula docet
— und Spuren dieser rationalisierenden
Behandlung lassen sich, wie Tylor ganz
richtig nachgewiesen hat, in dem reichen
Sagenkranz erkennen, der sich um die
Person des nordamerikanischen Gottes
Menabodzho schlingt.* Jenen socialen Hinter-
grund des Märchens, den unsere Literatur-
historiker in lauter Bewunderung der poe-
tischen Kraft nur allzusehr übersehen
baben, jene socialen und vorsocialen
Äußerungen der menschlichen Psyche
darf man bei der Betrachtung der Mythen-
welt und ihres Überganges in die lieb-

* Hier ist die Ähnlichkeit mit dem polynesischen Gott Maui, dem Cultur-Heros der Poly-
nesier, der aber, ähnlich wie Till Eulenspiegel, an listigen Einfällen und burlesken Streichen
reich ist, unverkennbar (vergl. Bastian: Zur Kenntnis Hawaiis). Aber anderseits ist es wohl
möglich, dass, wie Brinton vermuthet, hier spätere Umänderungen und Entstellungen des
ursprünglichen Charakters eingetreten sind.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 200, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-08_n0200.html)