Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 201

O grave where is thy Victory Über Thiercultus vom völkerpsychologischen Standpunkte (Toorop, JanAchelis, Thomas)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 201

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ACHELIS: ÜBER THIERCULTUS VOM VÖLKERPSYCHOLOGISCHEN STANDPUNKTE.

liche Gestalt des Märchens nicht aus dem
Auge lassen.

Wenn wir uns die Grundzüge dieser
Untersuchung nun vergegenwärtigen, so
geht daraus vor allem der unmittelbare
Zusammenhang zwischen Menschen- und
Thierwelt hervor, wie er für das naive
Bewusstsein des Naturmenschen als eine
über allem Zweifel erhabene Thatsache
feststand. Deshalb musste mit unaus-
weichlicher Nothwendigkeit jede weitere
mythologisch-religiöse Entwicklung hier
einsetzen und ihre Theorie der Seele, die
selbstverständlich schon vorher als das
Ergebnis eines anderen Processes gewon-
nen war, darauf anwenden. Sociale Mo-
mente, ganz besonders die uralte, schon
durch persönliche Pietät nahegelegte Ahnen-
verehrung, traten hinzu, um diese Be-
ziehung noch enger und unverbrüchlicher
zu schürzen und sie zu einer sittlichen
Verpflichtung zu erheben. Erst viel später
bemächtigte sich die priesterliche Specu-
lation dieses reichen und ergiebigen Pro-
blems, um es nach allen Seiten hin aus-
zugestalten, ohne doch — wenigstens für
das gewöhnliche Volk — die primitive
Vorstellung der fetischhaften, zauber-
kräftigen Incarnation, wie in Egypten und
Indien, zu beseitigen. Für die einfache,
naive Empfindung sind die Thiere selbst
Gottheiten oder wenigstens ihre unmittel-
baren, vollgiltigen Vertreter, an deren
Wirksamkeit und Echtheit der Natur-
mensch gerade so fest glaubt, wie der
überzeugte Christ an die Wunder des
Neuen Testaments. Deshalb ist es auch
ein falscher, nur durch unsere kritische
Reflexion bedingter Standpunkt, bei den
Märchen die uns geläufige Annahme
des bewussten Anthropomorphisierens

festzuhalten. Diese Fabelthiere sind ge-
radeso leibhaftige Geschöpfe, mit seeli-
schen Trieben und Instincten ausgestattet,
wie die Thiere der Himmelskörper, deren
substanzielle Realität freilich im Laufe der
Zeit zu Symbolen und schemenartigen
Thierzeichen verblasst ist (vgl. v. d.
Steinen: Unter den Naturvölkern Central-
Brasiliens.) Erst eine reinere, der sinn-
lichen Anschauung mehr entfremdete
und einer tieferen Erkenntnis zustrebende
Auffassung verlässt diesen uns fast unver-
ständlichen mythologischen Realismus und
sucht, indem sie durch den glänzenden
Schimmer der äußeren Umhüllung bis
zum Wesen und Begriff der Erscheinung
durchdringt, das vordem völlig fehlende
sittliche, lehrhafte Element dieser Ent-
wicklung zuzufügen. Es ist ein schönes
Zeugnis für die unbestechliche Wahrheits-
kraft des menschlichen Geistes, das Brin-
ton von dem Inca Yupangui erzählt, der
in seinem Reiche alle bildliche Verehrung
des höchsten Gottes Viracocha verbot;
denn es sei unrecht, wenn der allmächtige
Schöpfer aller Dinge in der früheren Weise
mit Opfern und Geschenken verehrt wer-
den sollte, während ihm, dem höchsten
aller Götter, nur ein geistiger Dienst ge-
büre. (Hero-Myths.) Aber gegenüber
diesen leuchtenden Höhen einer an christ-
liche Ideen erinnernden Weltanschauung
dürfen für eine social-psychologische Per-
spective nicht die niedrigen Entwicklungs-
stufen vergessen werden, auf welchen
einerseits die unorganische Natur mit
ihren gewaltigen elementaren Kräften und
andererseits die wesensgleichen und durch
die verschiedenartigsten mystischen
Bande an den Menschen gefesselten
Thiere die Hauptrolle spielen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 201, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-08_n0201.html)