Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 204

O grave where is thy Victory L’Ennemie des rêves, roman contemporain, par Camille Mauclair (Toorop, JanGourmont, Remy de)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 204

Text

RUNDSCHAU. FRANZÖSISCHE LITERATUR:

L’Ennemie des rêves, roman
contemporain
, par Camille Mauclair
(Librairie Ollendorff). Paris 1900.
— Camille Mauclair hat nicht zwei, nicht
einmal zwei aufeinander folgende Bücher
geschrieben, in denen man denselben
Geisteszustand, dieselben Ideen, dieselben
Wünsche wiederfindet. Wenn »der alberne
Mensch der ist, der sich nie verändert«,
so ist der Verfasser von »L’ Ennemie
des rêves« von einer solchen Albernheit
sehr weit entfernt. Er hat sich ver-
ändert, er verändert sich und wird sich
noch verändern. Das ist interessant, doch
auch ein wenig beunruhigend, besonders
für die Kritik, die sich genöthigt sieht,
auf eine Würdigung der ungenügend
motivierten Variationen zu verzichten. Die
wahre Ursache dieser Verwandlungsfähigkeit
ist ohne Zweifel eine ungewöhnliche, eine
weibliche Sensibilität; doch es gibt auch
beständige Frauen, ja die Beständigkeit der
Gefühle ist, was man auch sagen möge,
einer der Charakterzüge der Frau. Hier
sieht man sich einer neugierigen und
eindrucksfähigen Seele gegenüber, die
sich von dem Geliebten trennt, sobald sie
ihn kennen gelernt, sobald er ihrer Phan-
tasie nicht mehr genügende Mysterien
bietet. Camille Mauclair ist noch sehr
jung — eine Erklärung mehr. Da er seit
seinem achtzehnten Jahre schreibt, macht
er uns zu öffentlichen Zeugen einer
schwankenden Entwicklung, die sonst un-
bemerkt vor sich zu gehen pflegt. Wir
sahen ihn als einen der Getreuen Maurice
Barrès’ und dem Cultus des Ich huldigend;
bald darauf als einen von Maeterlincks
Jüngern und den Speculationen eines etwas
entnervten Mysticismus nachsinnend. Er
hatte wohl auch noch andere, in weniger
ausdrücklicher Weise angebetete Götter,
und nun ist er sentimental geworden,
doch von einer eigenthümlichen, klugen,
überlegten Sentimentalität, welche Träume
und Hirngespinste verschmäht. Er räth
den Männern, die Frauen zu nehmen, wie
sie sind, statt sie in dem traditionellen,
falschen und entstellenden Lichte zu be-
trachten. Eine Stelle der Vorrede erklärt
diese Auffassung: »Es gibt so viele Arten
der Liebe, als es Menschen gibt Es

gibt die Sehnsucht nach den Genüssen
der Sinnenlust Es gibt die Sehnsucht,
nach unserem Bilde ein moralisches Wesen
zu schaffen Endlich aber gibt es
noch eine Art vermittelnder Sehnsucht,
die nur auserwählte Seelen kennen und
von der in diesem Buche die Rede ist.
Diese Sehnsucht, sie ist die eines Mannes,
der, den ungerechten Irrthum einsehend,
die Frau zur Verdopplung seiner selbst
zwingen zu wollen, ihr ihre Persönlichkeit
zu wahren erlaubt und von der Wollust
nichts anderes verlangt, als dass sie diese
beiden parallel laufenden Kräfte des In-
stinctes und der Vernunft nicht versöhne.«

Camille Mauclair bemüht sich, her-
vorzuheben, dass es sich um »auserlesene
Seelen« handle. Er könnte hinzusetzen,
dass diese Seelen oder vielmehr diese Wesen,
da es sich um die Liebe in ihren weitesten
Begriffen handelt, auf diese Weise ein
prächtiges, aber unendlich gefahrvolles
Spiel wagen. Eine solche Liebe wird stets
zur Zweiheit verurtheilt bleiben; die Ver-
einigung wird unvollkommen sein, unbe-
ständig und stets zum Bruch bereit.
Es ist, wenn man die Wollust davon
streicht, das Bild der idealen Freundschaft
viel mehr, als das Bild der wahren mensch-
lichen Liebe, das Mauclair uns hier zeigt.
Ein Weib, selbst ein höher veranlagtes
und mit ganzer Seele liebendes Weib
fühlt sich durch Überlegenheit des Mannes
nicht gekränkt. Es liegt viel Unterwürfig-
keit in der weiblichen Sinnenlust — oft
mehr noch: wahre Hingebung. Ist ein
solches Verhalten, wie die Evolutionisten
behaupten wollen, durch die angebliche
Sclaverei, in der das Weib jahrhunderte-
lang dahinlebte, völlig zu erklären? Kaum
wahrscheinlich! Übrigens dünkt mir, als
hätten die Frauen niemals, selbst nicht
in den barbarischen Zeiten, die den unseren
vorausgiengen, viel unter der Selbstüber-
hebung des Mannes zu leiden gehabt.
Tacitus erzählt, dass die Germanen ihre
Frauen verehrten und etwas Göttliches in
ihnen zu sehen glaubten. Diese Gottheiten
übten im Staate einen thatsächlichen Ein-
fluss aus und dürften auch in der Ehe eine
bedeutende Autorität besessen haben. Die
Frau gibt sich in der Liebe aus Natur-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 8, S. 204, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-08_n0204.html)