Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 137

Les Muses quittent Apollon Helene Petrowna Blavatsky und die »Geheim-, lehre« (Moreau, GustaveFroebe, Robert, Dr.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 137

Text

HELENE PETROWNA BLAVATSKY UND DIE
»GEHEIMLEHRE«.*
Von Dr. ROBERT FROEBE (Wien).

Wenn die Frage nach der Gleichberech-
tigung der Frauen gesprächsweise aufge-
worfen wird, wenn selbst Überzeugte zwar
dem Principe zustimmen, aber mit mehr
oder weniger Aufrichtigkeit durchblicken
lassen, dass das Höchsterreichbare auf
geistigem Gebiete doch dem Weibe
versagt sei, so ist es ein Name, der
ausgesprochen für jeden seiner Kenner
die Frage gelöst erscheinen lässt. Jeder,
der H. P. Blavatsky’s Schriften kennt,
wird sich schon gesagt haben, eine solche
Summe von geistigen Kräften, in einem
Gehirn vereinigt, bringe das Jahrhundert
nur einmal hervor. Wenn wir aber erst
die Einwirkung auf die Culturbewegung
eines ganzen Volkes als Maßstab für die
geistige Kraft eines Menschen ansehen
wollen, so verliert dieser Name nicht an
seinem Glanz, im Gegenteil, wir sehen
das in der Weltgeschichte noch nicht da-
gewesene Schauspiel, dass durch die
Schriften einer Frau eine Umwälzung der
Grundanschauungen, auf denen die abend-
ländische Cultur beruht, begonnen hat.
Eine geistige Bewegung, deren Wellen
täglich weitere Kreise ziehen und die
immer tiefer ins Leben gerade der freiesten,
vorurteilslosesten Denker eingreifen, nimmt
ihren Ursprung in den Ideen, deren erste
Verkünderin im Abendlande H. P. Blavatsky
war. Wer wusste noch vor wenigen Jahren
von Karma und Reinkarnation? und heute
bilden sie einen anerkannten Bestand-
teil nicht nur der Auffassungsweise des
Wissenden, sondern die Richtschnur für
das Handeln von Hunderttausenden von
Menschen. Und Millionen schon sind
mit diesen Worten soweit vertraut, dass
sie wissen, um was es sich handelt. Aller-
dings nicht hier bei uns; H. P. B. suchte
für die Verbreitung ihrer Lehre als ge-

eignetsten Ausgangspunkt England und
Amerika, wo sie die erste Grund-
bedingung für die Aufnahme theosophi-
scher Weltanschauung: Vorurteilslosigkeit
am höchsten entwickelt zu finden hoffen
konnte. Aus diesem Grunde hat sie auch
für ihre Veröffentlichungen die Welt-
sprache des Englischen erwählt, in die
sie sich als geborene Russin selbst erst
hineinarbeiten musste, um in möglichst
kurzer Zeit auf möglichst viele Menschen
Eindruck machen zu können. Dies ist in
einem gewissen Sinne zu bedauern, da
gerade die englische Sprache in ihrer
Formenarmut am allerwenigsten geeignet
ist, geistigen Gedanken als getreues Ab-
bild dienen zu können, namentlich solchen,
für die dem Leser bisher alle Begriffe
fehlen und die somit Missverständnissen
sehr leicht ausgesetzt sind. Die deutsche
Sprache würde die Verbreitung allerdings
vielleicht etwas weniger rasch gestattet
haben, dafür wäre aber auch das Ver-
ständnis solcher Sätze, die ganz neue
Ideen zu bringen bestimmt sind, durch
die größere Ausdrucksfähigkeit des
Deutschen bedeutend erleichtert worden.
So hatte denn die Bewegung in Amerika
schon weite Kreise erfasst, bevor man bei
uns auch nur von ihr gehört.

Wenn man von Lionardo da Vinci
gesagt, dass sein Wissen eine ganze
Akademie aufgewogen habe, so kann man
dies auch von dieser wunderbaren Frau
sagen, deren Schriften die Beherrschung
der verschiedensten Wissenschaften in
einem Grade zeigt, wie man es, wenn man
sich nicht persönlich davon überzeugt,
gewiß nicht für möglich halten möchte.
Aber nicht nur für den verwöhnten Ge-
lehrten, dessen geistige Ansprüche nicht
leicht zu befriedigen sind, und die sie

* H. P. Blavatsky, Die Geheimlehre. Übersetzt von Dr. R. Froebe. Leipzig, Wilhelm
Friedrich.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 137, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-10_n0137.html)