Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 138

Les Muses quittent Apollon Helene Petrowna Blavatsky und die »Geheim-, lehre« (Moreau, GustaveFroebe, Robert, Dr.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 138

Text

FROEBE: HELENE PETROWNA BLAVATSKY UND DIE »GEHEIMLEHRE«.

doch in überreichem Maße zu befrie-
digen wusste, hat H. P. B. geschrieben.
Wir verdanken ihr auch eine Anzahl
kleiner Schriften rein ethischer Natur, die
in ihrer Art ebenfalls alles bisher Be-
kannte in den Schatten zu stellen vermocht
haben. Hier will ich nur auf ihr letztes
eigentliches Lebenswerk hinweisen, auf
die im Jahre 1888 erschienene Geheim-
lehre. Das Wort »Geheimlehre« wird
allerdings Viele abstossen, und ich
selbst, der ich es unternommen, dieses
Werk ins Deutsche zu übertragen, habe
mit Rücksicht auf die Zugkraft, die
ich einem Titel für dieses unvergleich-
liche Werk gewünscht hätte, bedauert,
dass es nicht möglich war, den Untertitel
des Werkes: »Eine Vereinigung von
Wissenschaft, Religion und Philosophie«
in ein kürzeres Wort zusammenzuziehen,
das nicht einen so fatalen Beigeschmack
von Mysticismus hat. Wenn wir aber
daran denken, dass das höchste mensch-
liche Wissen von jeher im Geheimen in
indischen und ägyptischen Tempeln, grie-
chischen Mysterien gepflegt wurde, dass
in späterer Zeit die Reste dieser Tradi-
tionen in geschlossenen Gesellschaften
fortgepflanzt wurden und dass in eben
diesen Gesellschaften auch die Pflege der
fortgeschrittensten Wissenschaft eine ebenso
liebevolle Aufnahme gefunden hat, wie
die Lehre und Bethätigung erhabenster
Ethik, so werden wir diesen Titel eher
entschuldigen, da er nichts anderes sagen
will, als dass Lehren, deren wesentlichster
Inhalt in früherer Zeit geheimgehalten
wurde, einer vorgeschrittenen (durch die
großen Fortschritte der Naturwissenschaft
insbesondere auf entwicklungsgeschicht-
lichem Gebiet und durch Anerkennung
allgemeiner Menschenrechte und einer von
Geburt und Stand unabhängigen Menschen-
würde vorbereiteten) Menschheit nunmehr
als öffentliches Gemeingut übergeben
werden können. Wer etwa glaubt, dass
ihn die Ergebnisse der neuesten Forschung
über den Inhalt der in der Geheimlehre
mitgeteilten Naturwissenschaften empor-
heben können, wird sehen, dass alle
diese Lehren in unserem Buche, soweit
sie auf exacten Beobachtungen beruhen,
vollkommen anerkannt sind, und dass
Alles, was ihm neu sein wird, nicht als

ein Widerspruch, sondern nur als eine
Ergänzung der modernen Naturwissen-
schaft vor Augen treten wird. Es sind
nur die Grenzen weiter gezogen, sowohl
zeitlich und räumlich, als auch in der
Richtung nach dem Innern. Und dass
wir gerade in letzterer Beziehung es noch
nicht sonderlich weit gebracht haben,
darüber dürfte wohl kein Zweifel sein.
Wir haben uns zu sehr daran gewöhnt,
nur Specialisten zu sein und das große
Weltgeschehen über unseren kleinen
Sondergebieten vollkommen zu vergessen.
Hier sehen wir die umgekehrte Methode
befolgt. In großen Zügen wird die Ge-
schichte des Weltalls, sowie die Geschichte
der Menschheit und das Wesen des ein-
zelnen Menschen gezeichnet, aber es sind
auch tausend Stellen angegeben, an denen
die Detailforschung einsetzen kann. Und
Jeder nach seiner Art, sei er nun Astro-
nom, Geologe, Physiologe, Psychologe,
Historiker, Philosoph oder ein vorurteils-
freier Theolog, würde sein ganzes Leben
damit ausfüllen müssen, wenn er einzelne
Seiten des Gebotenen nach ihren Einzel-
heiten bearbeiten wollte. Dabei zeigt das
Buch eine derartige Belesenheit in schwer
zugänglichen Literaturen der verschieden-
sten Völker und der verschiedensten
Wissenschaften, dass man wiederum sich
staunend fragen muss, ob eine Einzel-
person ein solches Buch habe schreiben
können. Wir wollen die Frage, von wem
H. P. B. all dieses Wissen erhalten hat,
gänzlich beiseite lassen, denn das wäre der
geringste Beweis für die Richtigkeit der-
selben, wenn man sich auf die Autorität
eines Menschen oder auch einer Gesell-
schaft berufen wollte. Das hat dieses Buch
wahrlich nicht nötig. Jeder prüfe und
forsche darin nach Gutdünken, ohne Vor-
eingenommenheit, ohne Glaube an irgend
welche Autorität; das ist die richtige Art,
das Buch zu lesen.

Ich will versuchen, im Folgenden
einen kurzen Überblick über den Inhalt
desselben zu geben, bemerke aber, um
die Unzulänglichkeit dieses Überblicks im
vorhinein zu charakterisieren, dass der
Index zur Geheimlehre allein ungefähr
achtzigtausend Verweisungen hat und
einen eigenen stattlichen Band bildet. Die
Geheimlehre zerfällt in zwei Teile, über-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 138, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-10_n0138.html)