Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 143

Les Muses quittent Apollon Vor Sonnenaufgang (Moreau, GustaveHardt, Ernst)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 143

Text

HARDT: VOR SONNENAUFGANG.

— gleichmäßig und sehnsüchtig! wie die
Hände im Schlaf mit dem Haar der
fernen Geliebten spielen. Der Wind
schlich oben huschten die Wolken
gespenstisch — in der mächtigen Schatten-
finsternis der steinernen Brückenpfeiler
zerrannen schwere Tropfen.

Langsam tauchte sein Leben vor ihm
auf und alle Qual seiner wesenlosen
Tage Was in den Büchern stand
war ihm gelehrt worden von seiner Jugend
an. Er kannte die Welten und die Völker,
die todten und die lebenden, ihre großen
Zeiten und ihre Niedergänge. Er wusste
von den Thieren und von den Sternen
und von den Pflanzen und vom Menschen
und von allen großen Gesetzen, und
war doch so traurig
— — —

— — Aus der Ferne schwebte es
zu ihm herüber, wie leises Aufperlen
silberner Klänge und ein Hauchen von
gedehnten Gesängen er gedachte seiner
Kindheit, der lichten Tage und der ruhigen
Abende, an denen er seine Hände ge-
faltet hatte und so tief vertrauend die
einfachen, gelernten Worte betend ge-
sprochen Nun wusste er, dass es
zwischen Erde und Sternen nichts
gab als ihn — — und dennoch, dennoch
fühlte er sein Herz so tief in Sehnen
bangend glühen, wie die Herzen der
Menschen, die auf seinem Teppich gekniet
hatten, und wie Jene, deren Liebe den
wunden Heiland am Kreuz kannte.

Er verließ die Brücke und ging in
die Straßen zurück, zwischen die stummen
Häuser Da fand er vor einem düster
gewölbten, breiten Steinthore fünf kleine
Mädchen gereiht, mit blassen, halbver-
hüllten Gesichtern, auf denen Kinderlieb-
lichkeit lag und Leiden. Sie streckten
kleine und schlaffe Hände zu ihm auf,
und ihre Lippen stammelten Bitten, dass
er ihnen gäbe, denn sie hatten Hunger.
Er griff hastig in seine Taschen, eilig,
in Verwirrung tastend, und zog hervor,
was er bei sich trug. — In jede kleine
Hand legte er mit ernster Scheu und fast
voll Scham eine Münze. Aber er hatte
nur vier bei sich gefunden, so dass die
letzte Hand, die eine, offen und leer
blieb. — Das ergriff ihn tief, wie ein
großes Unglück, er bedeckte seine Augen
und gieng mit gequälten Schritten fort,

weiter in die Straßen hinein Immer
einsamer wurde sein Gang und die Glut
in ihm immer größer, alles gestaltete sich
vor ihm, und er erlebte in der langen
Nacht seine eigene Seele Dort
gieng im Nebel eine Frau vor ihm und
wandte ihr Gesicht ihm zu und gieng doch
vor ihm her, und all seine alte Sehnsucht
befiel ihn. Er wusste, dass diese Frau
seine Erlösung sei und sein Sieg. Er
gieng schneller — da hörte er hinter sich
seinen Namen rufen und sah eine andere
Frau, die winkte ihm mit flehender Ge-
berde. Er verhielt einen Augenblick —
da verließ ihn das Gesicht der ersten,
sie gieng vor ihm her und von ihm fort,
aber die, die hinter ihm war, die strebte
ihm zu mit eiligen, angstvollen Schritten.
Ihn zerfraß die Qual der Entscheidung,
und die Angst machte seine Glieder
beben die erste wandte ihm noch
einmal, einmal noch, aus der Ferne ganz
ihr Antlitz zu, da stürzte er ihr nach
und rief und bedeckte seine Ohren, um
das Wimmern hinter sich zu ertödten.
Er erreichte sie fast, er breitete seine
Arme aus und rief ihren Namen, den er
nun wusste; da bog sie in eine Seitenstraße,
er stürzte um die Ecke: hohe Mauern
starrten ihn an die Straße war leer
und so verlassen, als sei noch nie ein
lebend Wesen durch sie gegangen. — Er
erblich, wie einer der den Tod gesehen,
und schrie laut auf und lief zurück, die
andere Frau zu erreichen, die, die ihn
beim Namen gerufen: die Straße war
leer und todt. — — — Er wankte nun,
krank und gebrochen, die Brücke suchend
und das kühle Wasser. Er kam in eine
Straße, die länger, war als die anderen
und breiter, und ihre Laternen leuchteten
noch weniger — nur die allerletzte, ganz
am Ende der Straße, die leuchtete stärker
als alle übrigen, die er an diesem Abend
gesehen hatte. — Aber die Häuser schienen
noch steiler und verschlossener hier, und
der Schlaf der Menschen noch dumpfer,
und seine Verlassenheit wuchs, als sei
er ganz allein und einsam in der Mittags-
glut zwischen hohen, mächtigen, schroffen
Felswänden. — Unter der hellen Laterne
schwirrte ein Mensch an ihn heran mit
wirren Haaren und irren Augen, mit
flatternden und unbeherrschten Bewe-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 143, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-10_n0143.html)