Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 144

Les Muses quittent Apollon Vor Sonnenaufgang (Moreau, GustaveHardt, Ernst)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 144

Text

HARDT: VOR SONNENAUFGANG.

gungen, fasste ihn an und hielt sich an
ihm und flüsterte scheu und ängstlich:
»Sieh, sieh! wie sie schlafen! Alle! Alle!
schlafen! mit geschlossenen Augen und
zuckenden Mündern — so ferne von
uns! — Siehst Du ihre Träume? dort
und dort und dort!? überall hängen sie,
drängen sie komm, komm, komm!
komm fort! schnell! man darf ihre Träume
nicht sehn, die soll man fliehn! komm!«

Er entriss sich dem Irren und lief
fort, vom Grausen gehetzt — aber die
Träume! die Träume! — Die Träume
hiengen neben ihm und wogten neben
ihm, wie der Morgennebel in den Thälern,
und er erkannte sie alle, alle! Schwarze,
weiße, — heiße und eisige, solche, die
den düsteren Gewölben glichen und den
kalten Grabkammern, und solche, die
roh waren und nackt und schamlos, und
andere voller Frühling und Unschuld,
und reife, in denen Kornfelder wogten und
rother Mohn brannte an versiegten Brunnen,
und einen sah er, der weit war wie das
Meer und golden und reich wie die Gärten
im Süden. Er lief langsamer und wollte
verhalten, da kam die Angst wieder und
Qual und Verfinsterung, und er floh von
neuem die Welt weitete sich seinen
Augen, er sah das Nah und Fern; da
sah er einen Traum, in dem er selber
begehrt wurde mit gerungenen Händen
und drängenden Gliedern und mit Worten,
die heiß waren wie fließendes, quellen-
des, stoßendes Eisen. Er sah das Bild
der Frau, die vor ihm gegangen war,
und er sah das Bild der Frau, die hinter
ihm gerufen hatte, und er brach zusammen
und schrie laut nach ihr und nach
ihr — riss sich empor und lief weiter,
so schnell, dass er nichts sah als ein
Flimmern und Fließen um sich
Ein wilder ohrenzerreissender Schrei
hemmte seinen Lauf, der lange, wehe,
wilde Schrei der gepeinigten Creatur; er
wendete sich um — da sah er, verschleiert

vom Dunste der Nacht, den Wahnsinnigen;
in dessen gekrampften Händen wand sich
eine Katze in zuckender Todesqual. Mit
seiner letzten Kraft lief er zurück, aber
der Irre lief vor ihm fort und schneller
als er; da brach er in der Mitte der langen
Straße zusammen und vergrub seinen
Kopf vor den furchtbaren Schreien des
gemarterten Thieres — — —

Allmählich wurde es still Er
streckte seine verzerrten Glieder aus, eine
Todesmüdigkeit sank auf ihn herab, er
schloß seine Augen Da drangen
wieder jene süßen, leisen Laute zu ihm,
es klang wie ein weiches, von fernher
über das Meer verwehtes Lied — und
die Töne strichen über seine Seele, wie
weiße Schwäne sommernachts über
schwarze Teiche gleiten Er sah
langsam einen feierlichen Zug nahen
Frauen schritten an ihm vorbei in langen
Gewändern, die schöne Glieder hüllten
und wiesen; in ihren Händen trugen sie
schlanke Kerzen, die leuchteten milde, wie
das Licht an den lauen Lenzabenden, und
zwischen ihnen erklang leise das ver-
wehte Lied. Aber neben und fern
von den Reihen schritten andere Frauen
mit zagendem Gange, die sangen nicht
und trugen keine Kerzen und keine
Kränze — doch in ihren Gesichtern
brannten dunkle Augen und starrten ins
Leben, wie kranke Vögel. — — — Er
sah zu den Frauen, die die Kerzen trugen
und die Kränze, und da sah er, dass sie
alle blind waren und dass sie alle, alle
lächelten.

Er riss seine Augen auf, der fest-
liche Zug war nicht mehr; um ihn blich
die Nacht, hoch über ihm stand auf einer
halbzerfallenen Mauer der Wahnsinnige,
das getödtete Thier in seiner Faust, vor
ihm war das Kind mit der leeren, kranken
Hand und den flehenden Augen, und hinter
Allem fern am Himmelsrande erhob sich
die Sonne langsam und feierlich.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 144, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-10_n0144.html)