Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 147

Les Muses quittent Apollon Über die Bewohnbarkeit der Sterne Zur Geschichte der Passionsspiele (Moreau, GustaveAdler, Prof. S.Thomassin, Carl von)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 147

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THOMASSIN: ZUR GESCHICHTE DER PASSIONSSPIELE.

die großmassigen, weitesten und ältesten
Sterne, entwickeln sich also auch viel
später bis zur Phase b. Anders verhält
sich dies mit unserem Nachbar Mars, der
in Vielem unserer Erde entspricht und am
leichtesten der Beobachtung von hier aus
zugänglich ist. Auf ihm nehmen wir auch
augenscheinlich seine frühere oder jetzige
Bewohntheit wahr. Seine Gestaltung, seine
Schnee- und Eis-Pole, seine Zonen-Aus-
bildung, seine hydro- und orographischen
Verhältnisse etc. berechtigen zu dieser
Meinung. Flammarion zählt auf dem Mars
u. a. fünf Continente, fünfzehn Länder,
zwei Oceane, zweiundzwanzig Meere, vier

große Canäle, vier Baien, eine Halbinsel,
eine Landenge, eine Schneeinsel und ein
Cap. Zudem zeigt er viel Hochland.
Überdies hat Mars ein kunstvoll aus-
gebildetes Canal-System, das wohl
nur Vernunftwesen ausgeführt haben
können. All das bekundet die hohe Mög-
lichkeit seiner Bewohnbarkeit und die
Wahrscheinlichkeit seiner — früheren
oder gegenwärtigen — Bewohntheit.

Auch philosophische Gründe sprechen
übrigens für die Bewohnbarkeit asterischer
Gebilde; so u. a. beispielsweise die
Argumentierung dieser Möglichkeit aus
der Vollkommenheit des Universums.

ZUR GESCHICHTE DER PASSIONSSPIELE.
Von KARL v. THOMASSIN (München).

Das geistliche Drama ist durch den Be-
ginn der Oberammergauer Passions-
spiele wieder in den Vordergrund des
Interesses getreten. Über letztere ist be-
reits eine große Anzahl von Schriften
erschienen, die dem Leser eine Über-
sicht über die historische Entwicklung
dieses Spiels und eine Darlegung seines
Inhaltes bieten. Jedoch ist die Geschichte
der geistlichen Spiele überhaupt fast gar
nicht berücksichtigt worden. Es dürfte
deshalb erwünscht sein, über die Ent-
stehung und allmähliche Ausgestaltung der
geistlichen Dramen nähere Aufklärungen
zu erhalten, wie wir sie im Folgenden
zu bieten versuchen.

Schon in den ältesten Zeiten des
Christenthums finden wir ein geistliches
Drama in dem Werke »Χριςτος πασχων«
von Gregor von Nazianz. In späteren Jahr-
hunderten entstanden allmählich in ein-
zelnen Klöstern geistliche Schauspiele,
die (wie z. B. die Dramen der Roswitha)
den Zweck hatten, der heidnischen Littera-
tur entgegen zu wirken. In der christ-

lichen Lithurgie waren von Anfang an
dramatische Merkmale, z. B. in dem
Zusammenwirken verschiedener Geistlicher
bei der heiligen Handlung, in der Wechsel-
rede verschiedener Chöre etc. vorhanden.
Mit der Zeit trat bei einzelnen Festen das
dramatische Element immer ausgeprägter
im Gottesdienste hervor. So wurde z. B.
die Passion während der Charwoche von
verschiedenen Klerikern, welche die ein-
zelnen in derselben auftretenden Personen
darstellten, gesungen. Entschieden drama-
tischen Charakter hatte die Ceremonie der
Visitatio Sepulchri am Ostermorgen.
W. Creizenach * findet die erste Spur
derselben in dem Liber Consuetudinum,
einer Gottesdienstordnung für die engli-
schen Klöster aus dem Jahre 967. Der
Verfasser derselben hat die Consuetu-
dines
auswärtiger Klöster, z. B. Fleury-
sur-Loire und Gent, hiebei in Betracht
gezogen.

Analog dem Osterspiel entwickelte
sich allmählich auch das liturgische
Weihnachtsspiel, dessen Spuren man

* Geschichte des neueren Dramas. I., Halle a. S. 1893.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 147, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-10_n0147.html)