Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 148

Les Muses quittent Apollon Zur Geschichte der Passionsspiele (Moreau, GustaveThomassin, Carl von)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 148

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THOMASSIN: ZUR GESCHICHTE DER PASSIONSSPIELE.

bereits in einer Oxforder Handschrift
aus dem XI. Jahrhundert findet.* In
diesem Jahrhundert kommen bereits auch
Spuren dramatisch-lithurgischer Feiern
des Festes der Unschuldigen Kinder und des
Dreikönigsfestes vor, bei welchen Herodes
auftritt, wodurch ein Gegensatz in die
Handlung gebracht wird. Bald verband
man die lithurgisch-dramatischen Scenen
des Weihnachtscyclus, wie die des Oster-
cyclus, durch Einbeziehung der Passion
zu einem Ganzen. Es wurde aber dann
das kirchliche Drama vom Officium
(Gottesdienste) getrennt und »Ludus« ge-
nannt, was an einzelnen Orten schon im
XI. Jahrhundert stattfand. Gewöhnlich
wurde der Ludus am Schlusse der Vesper
abgehalten. Er gewann allmählich eine
große Ausdehnung, wie z. B. ein um-
fangreiches lateinisches Benediktbeuerer
Weihnachtsspiel aus dem XIII. Jahrhundert
beweist, in dessen Scenen mitunter bereits
stark weltliche Momente und Reminis-
cenzen an das altklassische Heidentum
hervortreten.** Die Ausartungen der geist-
lichen Spiele riefen schon im XII. Jahr-
hundert lebhaften Widerspruch in geist-
lichen Kreisen hervor. Man erklärte die
Spectacula Theatralia für Teufels-
werk, durch welches das Gotteshaus ent-
weiht würde. Papst Innocenz III. erließ
sodann im Jahre 1210 ein Dekret gegen
den theatralischen Unfug. Im Jahre 1227
beschloß eine Synode zu Trier: Non
permittant sacerdotes ludos theatrales
fieri in ecclesia et alios ludos in-
honestos.
Ein ähnliches Verbot erliess
auch eine Utrechter Synode von 1293,
veranlasst durch die possenhafte Aus-
schmückung der geistlichen Spiele. In
Spanien untersagte in einem zwischen
1252 und 1257 erlassenen Gesetze***
Alfons X. den Klerikern, Spottspiele (jue-
gos de escarnios
) in den Kirchen aufzu-
führen, weil in denselben viel Hässliches
und Unanständiges enthalten zu sein pflege;
doch weist er darauf hin, das es Vor-
stellungen gebe, die den Geistlichen er-

laubt seien, wie z. B. die Weihnachts-
spiele, Epiphaniespiele, Passions- und
Osterspiele; diese mussten aber in Ord-
nung und Gottesfurcht und nicht in der
Absicht, Geld zu gewinnen, vollzogen
werden. Allmählich wurde, übrigens schon
deshalb, weil der Raum in der Kirche
sich für die Spiele als zu klein erwies,
eine Verlegung derselben ins Freie noth-
wendig. Der Klerus behielt aber vorerst
noch die Leitung derselben und wirkte auch
in einzelnen Rollen mit. — Seit dem
XII. Jahrhundert werden die geistlichen
Spiele auch theilweise in der Volkssprache
aufgeführt, nachdem sich die Zwischen-
spiele eingebürgert hatten. — In Deutsch-
land wurden zunächst einzelne lithur-
gische Texte in die Volkssprache übersetzt.
Nach und nach wurde die Volkssprache
im geistlichen Drama vorherrschend. Nur
einzelne Chorgesänge blieben zunächst
noch lateinisch, und auf diese blieb dann
auch der Gesang beschränkt; während
früher die lateinischen Texte alle gesungen
worden waren, wurden deren Übersetzungen
und die neu gedichteten Verse einfach
recitiert. — Das geistliche »Spiel« zerfiel
mit der Zeit in die Unterabtheilungen der
»Mysterien-« und »Mirakelspiele«.
Erstere schlössen sich an die Feste des
Kirchenjahres an. Die Bezeichnung »Myste-
rien« soll nicht von mysterium, sondern von
ministerium (in der Bedeutung »vor-
schriftsmäßig durchgeführte Handlung,
Gottesdienst, Kunstwerk«) abzuleiten
sein.**** Der Ausdruck wird zuerst in einem
Privileg König Karls VI. vom Jahre 1402
gebraucht; das Wort wird daselbst
»Misterre« geschrieben. — Unter »Mi-
rakelspielen« verstand man Scenen aus
dem Leben der Heiligen oder aus der
christlichen Legende. — — Die Spiele
nahmen oft derart an Umfang zu, dass
ihre Aufführung mehrere Tage dauerte.
Vielfach wurden den Zuschauern Ablässe
gewährt. Nach der Einführung des Frohn-
leichnamsfestes im Jahre 1264 wurde
die an diesem Tage übliche Procession

* Léon Gantier, Histoire de la poésie lithurgique an moyen âge. Les tropes I., Paris 1886.

** Andererseits sind im Texte Stellen von vollendeter Eigenart zu finden; z. B.:
»Maria vadat in lectum suum, quae jam de spiritu sancto concepit, et pariat filium, cui assideat
Joseph in habitu honesto et prolixa barba.
«

*** v. Schack, Geschichte der dramatischen Kunst und Litteratur in Spanien.

**** Wackernagel, Geschichte der Deutschen Litteratur, I., 2. Auflage, Basel 1879.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 148, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-10_n0148.html)