Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 149

Les Muses quittent Apollon Zur Geschichte der Passionsspiele (Moreau, GustaveThomassin, Carl von)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 149

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THOMASSIN: ZUR GESCHICHTE DER PASSIONSSPIELE.

zu umfangreichen dramatischen Vor-
stellungen benützt. Bereits im Jahre 1366
werden in Prag die Ludi Theatrales ver-
boten. In England stellte vom XIV. Jahr-
hunderte an jede Zunft, welche an der
Procession theilnahm, ein Ereignis aus der
heiligen Geschichte dar. Die Vorstellungen
fanden auf fahrbaren Gerüsten statt, auf
welchen die Schauspieler die Procession
mitmachten; letztere wurde für die Auf-
führung der einzelnen Scenen unter-
brochen. Über ähnliche Frohnleichnams-
theater in Deutschland (z. B. in Zerbst,
Freiburg im Breisgau, Künzelsau, München)
sind mehrere Berichte aufgefunden worden.*
Das Gelungendste war offenbar das Kün-
zelsauer Frohnleichnamsspiel vom Jahre
1479, das die ganze Weltgeschichte von
der Schöpfung bis zum jüngsten Gerichte
umfasst.

Neben den Mysterien und Orakel-
spielen tauchten am Ende des Mittelalters
auch die sogenannten »Moralitäten«
auf. In diesen moralisch-allegorischen
Spielen wurden Tugenden und sonstige
Abstracta personificiert. Diese Personifi-
cationen fanden sich zum Teil schon
in früheren Schauspielen, z. B. in dem
Ludus Paschalis de adveniu et in-
teritu Antichristi
(1160) und im Bene-
dictbeuerer Weinachtsspiel; in demselben
treten die Gestalten der Kirche und Syna-
goge, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit
auf. Um die Ausbildung der Moralitäten
bemühte sich insbesondere die Corporation
der Clercs, der rechtskundigen Gehilfen
in Paris. Dieselbe pflegte gewöhnlich bei
Aufstellung des Maibaumes im Hofe des
Justizpalastes lustige Stücke aufzuführen.
Als nun der Erfolg der »Mystéres«,
welche die »Confrérie de la Passion«
in der französischen Hauptstadt aufführte,
immer mehr zunahm, dachten sie daran,
selbst ernste Stücke zu geben. Nun hatte
aber die Passionsbruderschaft das Privi-
legium für die »Mystéres«, so dass sie
sich gezwungen sahen, eine neue Art
geistlicher Dramen zu erfinden. — Auch
in anderrn Ländern wurden die Morali-

täten bald sehr verbreitet. Sehr beliebt
war eine englische Moralität mit dem
Titel »Everyman«, in der das mensch-
liche Geschick zur Darstellung kam.

Am Ende des Mittelalters war das
geistliche Mysterienspiel vielfach bereits
in so hohem Grade entartet, dass nicht
nur die rohesten Zwischenspiele aufge-
führt wurden, sondern auch die Scenen
der geistlichen Dramas selbst im bur-
lesken Tone verfasst waren. Übrigens
kommen schon in einzelnen Schauspielen
des XIV. Jahrhunderts (z. B. im Inns-
brucker Passionsspiel) viele Stellen mit
derbem Humor vor. Unglaublich ist es
übrigens, dass auch mit der Person Christi
in den Passionsspielen Scherz getrieben
wurde. Im Donaueschinger Passionsspiele
z. B. wird Jesu bei seinem ersten Ver-
höre ein Stuhl hingestellt. Als er sich
auf denselben setzen will, zieht ihn
Malchus weg, so dass Jesus zur Erde
fällt. Im Augsburger und Alsfelder Pas-
sionsspiele führen die Juden, während
Christus am Kreuze hängt, einen grotesken
Tanz um dasselbe unter Gesängen auf.
Einzelne Passionsspiele (wie z. B. ein
Wiener Osterspiel aus dem Jahre 1472)
sind überhaupt vom Anfang bis zum Ende
im burlesken Tone geschrieben. In einem
französischen Mystère wird nach der
Kreuzigungsscene Gott der Vater, der sie
auf seinem Himmelsthron verschlafen hat,
von einem Engel geweckt, der zu ihm
vorwurfsvoll sagt:

„Père eternel, vous avez tort,
Et devriez avoir vergogne,
Votre fils bien aimé est mort
Et vous dormez comme un yvrogne.“**

Neben derartigen Scenen finden wir
mitunter wieder harmlosere Scherze in
französischen Spielen, wie z. B. die Dar-
stellung der Teufelsküche in der fran-
zösischen Moralität: Bien-avisé, mal-
avisé
, die im Jahre 1439 in Rennes auf-
geführt wurde.***

Die Ausartungen der geistlichen Spiele
veranlassten mit der Zeit auch die Parla-
mente, dagegen einzuschreiten. So unter-

* C. v. Winterfeld, Zur Geschichte der h. Tonkunst, II., Leipzig. 1852.

** H. Alt, Theater und Kirche in ihrem gegenseitigen Verhältnisse historisch dargestellt.
Berlin 1846.

*** Parfait, Histoire des théâtre français II, 124 ss.; Callenberg, Das geistliche
Schauspiel des Mittelalters in Frankreich (Progr.) Mühlhausen i. Th. 1875.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 149, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-10_n0149.html)