Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 150

Les Muses quittent Apollon Zur Geschichte der Passionsspiele (Moreau, GustaveThomassin, Carl von)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 150

Text

THOMASSIN: ZUR GESCHICHTE DER PASSIONSSPIELE.

sagte das Pariser Parlament am 17. No-
vember 1548
die Aufführung der Mysterien
der Passion unseres Erlösers oder anderer
geistlicher Mysterien. Nach und nach
wurden übrigens auch vom Volke die
von den geistlichen Spielen losgelösten
Komödien, die sogenannten Fastnachts-
spiele, bevorzugt. Zur Reformationszeit
wurden in protestantischen Ländern die
Weihnachtsspiele wieder sehr beliebt, da-
gegen die Passionsspiele immer seltener.
Joachim Friedrich erliess in Berlin am
27. Februar 1598 ein Verbot derselben,
dem die Geistlichkeit in einem Beschluss
vom 30. Mai beipflichtete; sie erklärte,
dass mit der Darstellung der Angst und
Schmerzen Christi billig nachzulassen sei,
indem die geistlichen Betrachtungen da-
durch verhindert oder gleichsam in ein
Comödienspiel verwandelt werden. *

Die anfänglich kurzen Zwischenspiele
wurden mit der Zeit zu selbständigen
Spielen (in Deutschland Fastnachtsspiele,
in Frankreich Entremets, in England
Interludes genannt), in welchen alle
Thorheiten der Menschen verspottet und
häufig auch Klerus und Adel tüchtig mit-
genommen wurden. Die antiklerikale
Tendenz finden wir schon im XIV. Jahr-
hundert in mehreren Spielen. So wurde
z. B. im Jahre 1313 bei einem Hoffeste
anläßlich der Ertheilung des Ritterschlags
an die Söhne Philipps des Schönen ein
Spiel von Reinecke Fuchs dargestellt, der
als Priester, Bischof und schließlich auch
noch als Papst, Hühner und Küchlein
fressend, auftrat. — Zur Zeit der Reforma-
tion wurden die polemischen Spiele in allen
Ländern sehr beliebt. Zu den bemerkens-
werthesten gehören zwei Spiele, die
Nikolaus Manuel Deutsch in Bern im
Jahre 1522 zur Aufführung brachte und
in welchen der Gegensatz zwischen dem
entsagenden Christus und seinen wahren
Jüngern einerseits und dem weltliebenden,
hoffärtigen Papst und seinem Klerus
andererseits veranschaulicht wurde. Ein
anderes Spiel von Anton Schorns aus
Hogstraten in Brabant, das in Heidelberg
aufgeführt wurde, stellte die Religion als
hilfesuchendes Weib dar, das an den
Palästen der Könige und Großen abge-

wiesen wird, während es die Armen
freudig aufnehmen. — In England wurde
das polemische Interlude namentlich von
Heywood ausgebildet. Dieser verfasste
unter anderm »Merry Play between the
Pardoner and the Frère, the Curate
and Neybour Pratte
«, in welchem er
den Streit zwischen einem Mönch und
Ablaßkrämer sowie einem zu dessen Bei-
legung herbeieilenden Pfarrer und Bürger
schildert; im Dialog wird die in allen
Ständen des Klerus herrschende Corruption
gebrandmarkt. Auch Eduard VI. von Eng-
land soll gegen die katholische Kirche
ein Spiel, betitelt: »The Whore of
Babylon
« geschrieben haben. Bei der
Ankunft der Maria Stuart in Schottland
wurden wiederholt Reformationsspiele auf-
geführt. Katholischerseits revanchierte man
sich (z. B. schon unter Heinrich VIII. in
Greenvich) mit Spielen gegen Luther.
Calderon hat bekanntlich ein Auto
geschrieben, betitelt »La cisma de Ingle-
terra
«, in dem er den Untergang des
Cardinal Wolsey und der Anna Boleyn
sowie andererseits den Sieg der Königin
Maria von England darstellt.

Der Wiederbelebung der classischen
Studien folgte die Ausbildung der neueren
Schulkomödie im Gegensatz zu den
Volksspielen. Auch diese nahm allmählich
polemische Tendenz an, sowohl gegen die
katholische Kirche, wie gegen die feind-
lichen Secten. So schrieb z. B. Rivander
den Lutherus redivivus, einen Angriff
auf die calvinische Abendmahllehre, und
Nikodemus Frischlin das Phasma gegen
die Secte der Wiedertäufer und andere
Secten. Die Schulkomödie hatte jedoch
kein langes Leben. Dagegen wurden im
XVI. und XVII. Jahrhundert, namentlich
im protestantischen Deutschland, eine
Unzahl biblischer Dramen von Geistlichen
und Lehrern geschrieben und an Fest-
tagen in den Rath- und Schulhäusern auf-
geführt. Bekanntlich hat insbesondere auch
Hans Sachs dem geistlichen Drama
seine dichterische Kraft gewidmet.

Im Gegensatze zu diesen einfachen
Darstellungen wurden in den Jesuiten-
klöstern Schauspiele aufgeführt, in welchen
die theatralischen Effecte hervortraten. —

* E. Wilken, Geschichte der geistlichen Spiele in Deutschland. Göttingen. 1872.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 150, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-10_n0150.html)