Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 154

Les Muses quittent Apollon Cultur im Alltag* (Moreau, GustaveLindner, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 154

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BÜCHER.

MICHAEL HABERLANDT: CULTUR
IM ALLTAG. Gesammelte Aufsätze. Wie-
ner Verlag. 1900. — Endlos ist die Schar
der höher organisierten Menschen, die an
den tausendfältigen, kaum merklichen
Einwirkungen des Alltags gelitten haben
und leiden, endlos die Schar Derer, die
solchermaßen langsam verdorben sind,
bevor sie die stille Macht der stündlichen
Einflüsse zu ahnen und an ihre männer-
mordende Kraft zu glauben vermocht.
Mit eigenen Sinnen in die Welt gestellt,
glaubt wohl einjeder, der sich einen
kühnen Anlauf vortäuscht, das aus sich
selbst rollende Rad zu sein, bis er am
Ende wehmütig zu der beschämenden Er-
kenntnis kommt, dass er, von unbewussten
Rücksichten und Vorsichten getrieben,
zeitlebens nur die kleine Kugel gewesen,
mit der man allerseits caramboliert und
die am Ende keine höhere Pflicht hat,
als: plattgeschlagen in irgendeinem tiefen
Winkel zu verschwinden. Allstündlich
verblutet ein Tausend, ein Abertausend
wesensverwandter Creaturen an einem
räthselhaften Leiden, das weder physisch
noch psychisch empfunden wird, in seiner
geheimnisvollen Sonderart jegliche Anam-
nese ausschließt, auf unerklärliche und
unsägliche, gleichsam windverwehte und
ätherische Wirkungselemente zurückgeht
und schließlich in dem schmerzlos
Leidenden nach dem unmerklichen Ein-
tritte der Katastrophe nicht einmal die
Empfindung auslöst, dass eine Art
seelischer Verblutung in seinem Innern
vor sich gegangen. Sie verbluten am
Alltag — kann man von diesen stündlich
Sterbenden sagen. Die Wenigen, denen
ein Gott die Macht gegeben, den Tonfall
dieses leisen Verblutens in Rhythmen
aufzufangen, haben in manchen Augen-
blicken — da es ihres Amtes war, all-
stündlich zu sterben, um stündlich neu
zu erwachen — das Unsägliche sag- und
sangbar gemacht. Die ganze deutsche Roman-
tik war solch ein innerliches Verbluten. Das
Leben Petrarca’s, Rossetti’s, Lenau’s und

mancher Anderer lässt es nicht minder
ahnen. In vielen Versen des deutschen
Volkslieds klingt es an. In altindischen
Gesängen nimmt es Gestalt an. Heutigen-
tags kann man es namentlich bei Obst-
felder vermuthen.

Andere aber, die leichteren Blutes sind,
bilden sich von innen her einen selbstge-
schaffenen Alltag, in dem sie, mit der könig-
lichen Sicherheit der Kinder gebietend,
da hier allein schon der Wunsch Erfüllung
ist, jeder geistigen und leiblichen Noth-
durft überhoben sind; sie prägen sich
eine besondere Alltäglichkeit, um von
der allgemeinen nicht geprägt zu werden,
und übertragen die Gesetze ihres be-
sonderen Alltags unbewusst auf den
allgemeinen, von dem sie nur soviel zu
sehen vermögen, als ihr besonderer Ge-
sichtswinkel sichtbar macht; die Strahlen
des allgemeinen Alltags, der gleichsam
hinter ihnen schwebt, brechen sich in
dem besonderen Alltag, der ihnen vor-
anleuchtet; so sehen sie in ihrem
lichten Gesichtsfelde, dem sie schlaf-
wandlerisch entgegenschreiten, stets
nur die bunten Spiegelungen der Dinge,
Thiere, Menschen, die farblos hinter
ihnen liegen. Dieses ewige Widerspiel
zwischen jener allgemeinen und ihrer
besonderen Wirklichkeit oder Wahrheit
entzündet ein stets erneutes Schauen,
Lauschen, Staunen in ihrer Seele,
das fast bei jedem ihrer Schritte neue
Wunder vorspiegelt. So wird das All-
täglichste, Selbstverständlichste zum schein-
bar Ungewöhnlichsten, Räthselhaftesten —
und jeder Grashalm, jeder Kieselstein
kann, dafern nur die heimliche Sonne
solch eines Wandlers auf ihn fällt, stets
von neuem zu einer unerschöpflichen
und köstlichen Offenbarung werden.

Zu diesen Schlafwandlern gehört
Haberlandt. Die Wunder überkommen
ihn jäh, so dass er staunen, nur immer
staunen muss und mit visionär geweitetem
Kinderaug’ immer königlicher in sie hin-
einschreitet. Mit klingendem Spiel zieht

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 10, S. 154, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-10_n0154.html)