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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 226

Text

KUHLENBECK: WIE GELANGEN WIR ZU EINER HEROISCHEN WELTANSCHAUUNG?

hirnmenschen ϰατ᾽ἐξοχὴν ein wissenschaft-
liches Lehrsystem zu begründen, sondern
im Sinne folgender Verse Goethes:

»Ganz vergebens strebst du daher, durch
Schriften des Menschen
Schon entschiedenen Hang und seine Neigung
zu wenden;
Aber bestärken kannst du ihn wohl
in seiner Gesinnung,
Oder auch, wärer noch neu, in dieses
tauchen und jenes

(Goethes Epistel, I.)

Verstand, Gefühl und Wille bilden,
wie Breite, Höhe und Tiefe, die drei
Ausdehnungen des Raumes, die drei Haupt-
formen des seelischen Seins. Trennbar
sind diese drei Eigenschaften des Seelen-
lebens nur in der »Wissenschaft«, nie in
der Wirklichkeit. Allerdings gibt es räum-
liche Gebilde, die sich mehr oder weniger
dem Begriffe einer bloßen linealen oder
wenigstens bloß flächenartigen Ausdehnung
nähern. Aber rein mathematische Linien
oder Flächen, rein dimensionale oder zwei
dimensionale Wesen kommen nicht vor.
Die Wirklichkeit kennt nur dreidimen-
sionale Körper. So gibt es auch Wesen,
insbesondere Menschen, deren innerliches
Sein vorzugsweise in der Richtung des
Denkens, andere, bei denen es sich vor-
zugsweise in der Richtung des Gefühls
ausdehnt, wieder andere, bei denen das
Wollen überwiegt: Verstandesmenschen,
Gefühlsmenschen, Willensmenschen. Aber
seelisch dreidimensional bleiben sie alle.
Und sogar jeder einzelne Gedanke
hat seinen Gefühlston
, jedes Ge-
fühl ist eine mehr oder weniger
klare Vorstellung
, jedes Wollen
geht auf vorgestellte und
ge-
fühlte Ziele. — Die Einsicht dieser
Dreieinigkeit, die ihren abschließenden
Ausdruck in der platonischen Dreieinig-
keit des Wahren, Schönen, Guten
findet, darf uns beim Ringen nach einer
heroischen Weltanschauung, indem wir
nach klarer Selbst-Orientierung im Gesammt-
sein (im Universum) streben, niemals ver-
lassen. Jede Ketzerei gegen diesen psycho-
logischen Ausgangspunkt rächt sich durch
Irrthum und Sünde. Irrthum und Sünde —
darin hat Malebranche in seiner wenig mehr
gelesenen Schrift über die Erforschung
der Wahrheit recht — sind Synonyme.

Vielleicht empfiehlt es sich, diesen Mo-
nismus unserer heroischen Erkenntniskritik
durch einige Anleihen bei einem Fachkundi-
gen der Wissenschaft von der Seele, nämlich
bei Philosophie-Professor Höffding zu unter-
stützen und zu verdeutlichen. Höffding
schreibt in seiner »Psychologie in Umrissen
auf Grundlage der Erfahrung«* (S. 123):

»Trotz aller Unabhängigkeit von dem
praktischen Bedürfnisse und von der Forde-
rung des Augenblicks ist das Denken dennoch
stets mit einer gewissen Stimmung verbunden.
Es sind Gefühls-Elemente vorhanden, die nur
zu leicht übersehen werden, wenn sie sich
nicht in den Vordergrund hervordrängen,
sondern sich dem Spiel der Gedanken unter-
ordnen und durch dieses bestimmt werden.

Ein durchaus gefühlloses Denken
(wie speculative Philosophen es so oft gefordert
haben) existiert nicht. Vermöge der mit
allen Vorstellungen und Gedanken verbundenen
Gefühlsbewegungen wird die Erkenntnis eine
Macht der Seele. Wenn man von dem Kampfe
der Vernunft mit den Leidenschaften redet,
so wird eigentlich ein Kampf gemeint zwischen
den mit vernünftigen Rücksichten verknüpften
und den heftigeren, mit weniger Gedanken-
Elementen verbundenen Gefühlen, die man
mit dem Ausdruck Leidenschaft bezeichnet.
Ein Gefühl kann sehr stark und innig sein,
ohne heftig zu sein, wird dann aber leicht
übersehen. Die mit idealen Zwecken und
Verhältnissen verknüpften Gefühle sind weit
weniger als die primitiven, mit den physischen
Lebensfunctionen verbundenen Gefühle im-
stande, augenblicklichen Affect und plötzliche
Aufwallung zu bewirken. In den mit der
Selbst-Erhaltung und der Fortpflanzung des
Geschlechts verbundenen Leidenschaften liegt
eine thierische Brunst, welche oft durch keinen
anderen Einfluss zu bezwingen ist. Die
idealen Gefühle sind mehr über
größere Zeiträume vertheilt und
wir-
ken mehr im Verborgenen. Und den-
noch sind sie imstande, sich Schritt
für Schritt des Mittelpunktes der
Seele zu bemächtigen und die
ange-
sammelte, ursprünglich von jenen
primitiven Trieben beherrschte
Ener-
gie in ihren Diensten zu benützen

S. 124. »Ebensowenig wird die Er-
kenntnis jemals vollständig vom
Willen emancipiert
. In aller Erinnerung
und Synthese äußert sich eine Thätigkeit,
deren wir uns speciell bewusst werden und
die wir Aufmerksamkeit nennen, wenn sie aus
inneren oder äußeren Gründen stark in An-
spruch genommen wird, die aber in der That
auch bei der einfachsten sinnlichen Wahr-
nehmung eine Rolle spielt. Wir müssen
sehen wollen
, um recht zu sehen. Es
geht aber mit diesem Streben wie mit der
Gefühlsbewegung: wenn es nicht durch Wider-
stand oder auf andere Weise zu einem

* O. R. Reisland, Leipzig.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 13, S. 226, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-13_n0226.html)